Endlich Finnland V: Schlaflos in Kopenhagen

Heimwärts.Die letzte Fahrt.
Vorher noch zehn Stunden lang Kopenhagen fotografieren. Ohne Schlaf.

Eine Stunde nachdem ich mich nördlich von Helsinki hinlegte, wachte ich schon wieder auf. Der Bus zum Flughafen fuhr in einer Stunde. Vorher noch packen, Zähne putzen, anziehen.
Das halbe Haus wachte wegen mir auf. Der Vater, weil er mich zur Busstation fuhr. Tiina, weil sie mich zum Flughafen begleiten wollte. Und der Hund, weil er mein Frühstück roch.

Im Auto konnte ich die Augen kaum offenhalten. Es zogen eh nur dunkle Bäume vorbei, kein gesunder Finne fährt um die Zeit durch die Wälder. Irgendwo in der Dunkelheit hielten wir dann. Hinter der Böschung liegt die Busstation, sagte der Vater, der zwei Tage zuvor noch mit mir in der Sauna Wodka trank. Aber es ist kalt draußen, wir warten mal lieber drinnen. Die Fenster waren beschlagen und bildeten kleine Bäche.

Teurer Transport durch die Nacht
Schwer rollte der Bus Richtung Helsinki um die Ecke. Er war überraschend voll. Tiina versuchte wieder den Trick, uns beide als finnische Studenten zu verkaufen. Doch jetzt, um vier Uhr nachts, wollte der Fahrer es genau wissen und prüfte meinen Ausweis. Hannover war keine Universität, die er kannte. Also bitte 40 Euro für die Fahrkarte.
So viel hatte ich nicht dabei. Tags zuvor probierte ich vergeblich noch in Mäntyharju alle Geldautomaten durch – in Finnland werden sie “Otto” genannt. Doch keiner funktionierte, da alle bereits geleert wurden. Otto hatte kein Geld mehr.

Tiina bezahlte für mich und wir nahmen hinten im Bus Platz. Eine Stunde könnten wir wohl noch schlafen, bis wir am Flughafen sind. Aber ich traue Bussen eh nicht, und schlafen kann ich in ihnen sowieso nicht. Tiina gelang das ohne Probleme. Ich musste sie wecken, als wir bereits 45 Minuten später am Flughafen standen.

Zum Abschied lachte sie nur. Wie die ganze Woche schon. Ich verzog die Miene, unsicher wann wir uns wieder sehen würden. Doch sie lachte. Weniger wegen des Abschieds, mehr wegen der gemeinsamen Zeit, die wir hatten. Wir haben fast jeden wachen Moment verbracht. Und auch wenn ich mir in diesem Moment mehr Schlaf gewünscht hätte, ich bereute keinen einzigen davon.

Diesmal war ich weniger nervös, als noch im Flughafen in Kopenhagen. Ein Ticket nach Dänemark hätte ich gern, sie brauchen doch sicher nur meinen Ausweis, wa? Kein Ding, schon tausendmal gemacht. Hier bitte, er glänzt auch extra für sie.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht.
Wer im Internet ein Ticket kaufte, kann es in Helsinki scheinbar nicht am Schalter ausgedruckt bekommen, sondern muss zu einer Maschine. Die funktionierte allerdings nur mit Pässen, oder den ganz neuen EU-Personalausweisen mit Chip. Beides hatte ich nicht. Also musste ich doch das Stück Papier mit meiner Ticketnummer rauskramen und mit der Hand eintippen.
Wie archaisch.

Fünf Uhr. Mein Flieger ging um sieben. Zwei Stunden übermüdet rumkriegen, ohne Lektüre oder Smartphone ist nicht einfach. Einschlafen, unter dem Risiko meinen Flieger zu verpassen, war mir zu heikel. Also mal links durch den Flughafen. Rechts durch den Flughafen. Sonnenaufgang. Reisegruppe von verwirrten chinesischen Senioren schnattert laut. Und dann endlich Boarding. Die 28 Chinesen nahmen meinen Flieger. Die Zahl weiß ich so genau, weil ich sie alle zählte. Was man eben so macht, wenn man sich langweilt. Chinesen zählen. Sie machten wohl grad eine Europa-Rundreise. Souvenirs aus Helsinki hatten sie schon dabei.

Beim Betreten des Flugzeugs musste ich kräftig gähnen. Der Pilot, der uns begrüßte, nahm das sehr amüsiert zur Kenntnis. Als ich in Kopenhagen von Bord ging, fragte er mich noch, ob ich inzwischen aufgewacht bin.
Nein.

Die Senioren hatten Eile, ihr Gepäck zu holen. Ich nicht. Schließlich musste ich noch zehn Stunden rumkriegen.
Mit den restlichen Kronen, die ich noch hatte, zog ich ein Ticket für die S-Bahn. Ab in die Stadt. Der Himmel deutete schon keine guten Bilder an.

Erst einmal Frühstück. Und Kaffee. Viel Kaffee. Dabei trinke ich sonst keinen Kaffee. Doch jetzt brauchte ich ihn. Unbedingt.
In einem kleinen Café ließ ich mich in einen weichen Ledersessel fallen. Mein Gepäck rechts von mir, die Tasse und das Croissant auf der linken Lehne. Im Café spielte “Paperback Writer” von den Beatles. But I need a break.

Ich ging meine Tickets durch. Von dem Fächer, den ich zu Beginn der Reise erhalten habe, war nur noch eine Fahrkarte übrig. Heimwärts. Die letzte Fahrt.

Ich kam ins Grübeln.
Wird das ab jetzt immer so sein? Reisen, Fotografieren, in fremden Städten Kaffee trinken?
Müde, wie ich war, konnte und mochte ich diesen Gedanken nicht bewerten. Aber es wurde mir klar: Warum ich jetzt hier sitze ist allein meine Schuld. Ich habe den Job aufgrund meiner Arbeit bekommen. Ich habe entschieden, wohin es gehen soll. Keiner hat es mir vermittelt, keiner für mich entschieden. Und das bedeutet folgendes: Es ist komplett reproduzierbar.
Es liegt in meiner Macht zu sagen, wohin ich möchte und was ich dort mache. Klar bin ich davon abhängig, am Ende jemanden mit Geld davon zu überzeugen, mir welches zu geben. Aber je länger ich diesen Quatsch nun schon mache, desto leichter fällt es mir. Und desto weiter geht die Reise.

Ich war überrascht, wie spät ich diesen Gedanken hatte. Denn um ehrlich zu sein, für Japan war mir dies schon immer klar. Wenn ich nach Japan gehe, weiß ich, ich kann mein Zeug loswerden. Wenn ich in Japan für Geschichten reise, dann nie, ohne die Ahnung, am Ende mindestens meine Kosten wieder reinzubekommen.
Für Deutschland probierte ich es gerade aus. Und jetzt auch noch Europa. Das war mir so nur noch nicht klar.

Mir war allerdings klar, wie müde ich war. Knapp neun Stunden hatte ich noch. Also erledigte ich erst mal meine Pflichten. Solange ich noch wach sein konnte. Zum Job gehörte nämlich auch Stadtbilder von Kopenhagen zu machen. Ich nahm mein Gepäck und zog durch die Straßen.

Kopenhagen ist nicht groß. Vieles, was ich eine Woche zuvor schon mit meiner Begleitung abgelaufen bin, sah ich jetzt wieder. Nur, dass ich alleine war. Und der Himmel grau.

Wo letzte Woche noch ein Jazzfestival mit Bier stattfand, war nur graues Pflaster. An der Straßenecke, wo letzte Woche noch eine Blaskapelle spielte, sammelten sich nur die Regentropfen.

In einer Kirche belauschte ich ein deutsches Pärchen, die in ihrem Reiseführer wühlten. Es sollte wohl gleich was großes passieren. Da, die Straße runter. Ich folgte ihnen mal.
Gemeint war die Wachablösung der königlichen Garde. Jeden Tag um 12 Uhr.

Riesenaufwand und Gedränge. Ich fand die vielen Touristen eigentlich spannender, als die Militärheinis.

Und alles stets bewacht. Bloß nicht aus der Reihe tanzen.

Wie die Beefeater in London, dürfen wohl auch diese Puschelmützen keine Miene verziehen. Touristen lichteten sich mit ihnen fröhlich ab.

Auch wenn die Männer selbst das wohl nicht so fröhlich macht.

Je näher ich den königlichen Gebäuden kam, desto strenger die Blicke der Soldaten. Aber ich hatte eh was ich wollte.
Wachablösung war jeden Tag um 12 Uhr. Noch acht Stunden Kopenhagen.


Urban Knitting?

Bereits im Zug nach Kopenhagen erzählten uns zwei betrunkene Dänen von Christiania, einem bunten “Hippie-Viertel” für Künstler.

Obwohl es mir als “so super frei für Künstler und so” angepriesen wurde – ich fand die Amtosphäre dort irgendwie angestrengt. Vielleicht schreiben alle Reiseführer über das bunte Christiania, und nun muss man dem Ruf gerecht werden. Oder ich war einfach nur verdammt müde vom Rumlaufen. Wahrscheinlicher ist Letzteres.

Ich lief vorbei an einer Kirche, die inzwischen eine Kunsthalle geworden war, und holte mir einen echten, dänischen Hotdog für 35 Kronen. Jetzt hatte ich nur noch fünf Kronen übrig, die ich auch behalten wollte, da mir die Gestaltung der Münze so gefiel.

Es war jetzt gerade einmal 14 Uhr. Der Tag wollte einfach nicht vergehen. Ich hatte alles wichtige fotografiert und keinen Speicherplatz mehr. Oder Lust. Oder Geld. Oder windfeste Kleidung.
In einer Kirche suchte ich mit meinem Gepäck Zuflucht. Hier war es wenigstens kostenfrei warm.
Zeit, die Fotos durchzugehen.

Als der Pastor begann sich wiederholt energisch in meine Richtung zu räuspern, zog ich von dannen. Ich war müde, mir war kalt, ich hatte kein Geld und kein Obdach in dieser Stadt. Also ging ich zum Bahnhof.

Die letzten drei Stunden verbrachte ich auf ner Bank zwischen Gleis 9 und 10. Schließlich sollte ich im Zug noch Bilder machen. Wenn das irgendwie noch klappen sollte, musste ich mich kurz mal ausruhen. Ich beobachtete Kopenhagen.

Die Kerle trugen keine Jacken, sondern entweder dünne Hemden mit kurzen Hosen. Oder dicke Pullis aus Wolle. Bestimmt mehrere Zentimeter dick, aus ganzen, zusammengepressten Schafen. Oder so. Ich hätte jetzt auch gern so nen Pulli, dachte ich fröstelnd. Die Mädels trugen auffallend oft schwarze Hosen unter einem Rock. Ich zählte 17 in einer Stunde.
Chinesen zählen klappte hier in Kopenhagen nicht.

Dann kam der Zug. Ich suchte meine Kontaktperson, die über mein Kommen informiert sein sollte. Bis heute war ich fünf Mal in der Bahn fotografieren. Nie wusste einer Bescheid. So auch nicht in Kopenhagen. Aber problemfrei akzeptierte man meine Unterlagen und gab mir ein Zimmer. Nur der Zugbegleiter in meinem Abteil nahm es ganz genau. Er überprüfte auch Personalausweis und meine Kamera. Er folgte mir auch durch jedes Abteil, als ich Bilder machte, und verlangte, die Fotos anschließend zu sehen. Er war erst zwei Jahre dabei, also noch jung und pflichtbewusst. Alle anderen Zugbegleiter, mit denen ich zu tun hatte, waren immer länger als sieben Jahre auf der Schiene. Da hieß es stets nur: Ja, passt schon.

Während es mir tagsüber in Kopenhagen noch sehr müßig fiel, mir Bildlösungen für eine Situation oder einen Ort einfallen zu lassen, ging es hier einfacher von der Hand. Ich machte alle Bilder einfach grafisch, brach sie runter auf Linien und Flächen. Ordnet man diese dann ordentlich an, bekommt man ein nettes Bild. Kein spannendes, aber ein sauberes. Für Spannung war ich zu müde.

Direkt nach der Abfahrt ging ein Alarm durch den Zug. Taschendiebe. Erwischt hat man keinen mehr. Wahrscheinlich ist der in Kopenhagen eingestiegen, einmal durch die Waggons, und dann wieder raus. Das gibt es auf der Strecke wohl häufiger. Ich schloss meine Kamera ein und ging zum Zugführer.

Auf meiner Liste hatte ich noch ein paar Fotos stehen. Allerdings, so war die Vorgabe, kann ich nur Bilder machen, wenn die Abteile leer sind. Und es waren alle voll, sagte mir der Zugführer. Ich war fertig.
Das erste Mal seit sieben Tagen war ich fertig.

Skeptisch nahm ich das zur Kenntnis. Die ganze Woche hatte ich noch Sachen im Hinterkopf, die erledigt werden wollen und nicht vergessen werden dürfen. Der Hinterkopf war leer. Ich kramte nach. Wirklich nichts vergessen? Alles gemacht? Alles fotografiert?
Ich war von der neugewonnen Freizeit etwas überfordert und legte mich hin. Mein iPod spielte Beatles. Come together, right now. Over me

Kurz vor Schleswig-Holstein schlief ich ein.

Ein Stopp in Hannover gibt es auf der Strecke eigentlich nicht. Aber da dort eh gehalten wird, um die Brötchen fürs Frühstück mitzunehmen, konnte ich die Zugbegleiter überzeugen, mich 2 Uhr nachts dort rauszulassen.
Ich nahm die letzte U-Bahn der Nacht zu meiner Wohnung. Im Kopf noch Helsinki, die Woche Finnland, das Roggenbrot im Zug. Am Abend wollte noch eine Kommilitonin vorbei kommen, nächste Woche war Abgabe für eine Hausarbeit. Und in vier Wochen würde ich schon wieder in Tokyo aufwachen und dort Kaffee trinken.

Epilog
Die Bahn war zufrieden mit meinen Bildern. Nachdem ich meine erste Auswahl abschickte, wollten sie noch mehr Fotos haben. Und selbst die, die ich aussortiert hatte, fanden sie dann gut.
Vorletzte Woche erreichte mich die Broschüre, in der sie einige der Fotos abdruckten. Zum Nachtzug gibt es gerade ne große Werbekampagne, in Bahnhöfen, auf Postern oder in Broschüren im ICE o.ä. Einige Bilder sind von mir, aber die gesamte Kampagne haben natürliche andere Fotografen gemacht. Ich bin da nur reingerutscht, meine Bilder kamen grad zeitlich passend.

Das ganze Ding war auf jeden Fall ein großer und wichtiger Schritt für mich als junger Fotograf. Sowohl als Referenz, als auch um meine Grenzen und Belastbarkeit auszutesten. Ich habe viel mitgenommen aus Finnland. Allen voran Tiinas Erkältung, die mich nach der ersten Nacht in Hannover erwischte.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

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