Meine wichtigste Geschichte, 1. Teil

Es ist die Geschichte von Hiroshima und seinem Atomkraftwerk. Es ist die Geschichte vom Kampf einer kleinen Insel gegen einen großen Konzern.Und es ist die Geschichte von einem jungen, ehrgeizigen Journalisten.

Es ist meine Geschichte.

Da in den nächsten Wochen mein mittlerweile drittes Buch zu Japan erscheinen wird, will ich die Gelegenheit mal nutzen, um zu jedem einzelnen was zu erzählen.

Prolog
Der 30. Dezember 2009 in Tokyo. Mein Geburtstag. Ich war am Ende.
Seit einem halben Jahr war ich nun schon in Japan. Mein Erspartes war lange aufgebraucht, ich ernährte mich seit Wochen nur von Instant-Ramen für 100 Yen die Packung. Ich hatte bisher keinen Job finden können und der letzte Auftrag als Fotograf war über einen Monat her. Ich war abgebrannt. Zudem erklärte mir mein Mitbewohner vor Weihnachten, dass seine neue Freundin hier gerne einziehen möchte. Schön, sagte ich, endlich mal ein weiblicher Touch. Sie hätte gern dein Zimmer, ergänzte mein Mitbewohner. Ich sollte zum 1. Februar verschwunden sein.

Ich war pleite und hatte keine Ahnung, wohin ich ziehen sollte. Abgesehen davon, dass ich mir eh keine Miete oder Umzug hätte leisten können. Es war einen Tag vor Silvester 2009. Happy Birthday.

Einen Ausweg gab es: Zusammen mit meinem Flug nach Japan buchte ich auch einen Rückflug, auf den Tag genau sechs Monate später. Am 11.1.2010. In weniger als zwei Wochen.
Nach Weihnachten gab ich mir selbst eine Woche zu entscheiden, ob ich den Flug nehme und flüchte, oder ob ich es weiter wagen sollte mit dem Abenteuer Japan.
Es waren bereits sechs Tage vergangen und ich hatte immer noch keine Antwort. Von dieser Zeit zeugt noch ein Blogeintrag.

Da ich mich auf den sechs Quadratmeter meines Zimmers im 3. Stock in Shinjuku gedanklich eh nur im Kreis drehte, ging ich raus. Freunde treffen. Schließlich war es mein Geburtstag.

20 Uhr, UNI-Bar
Wir waren in meiner Lieblingsbar verabredet. Ein ganz kleines, ulkiges Lokal in Sasazuka, einer verschlafenen Nachbarschaft, in der Freunde von mir wohnten. Nichts, wo sich sonst ein Ausländer hin verirrt. Und für mehr als 10 Leute wäre eh kein Platz.
Bis heute besuche ich die Bar immer wenn ich in Tokyo bin, der Barkeeper erkennt mich jedes Mal.

Doch meine Lieblingsbar hatte an diesem Abend zu. An meinem Geburtstag. Keine Ahnung wieso.
Wir suchten eine Alternative und gingen die Straße ab. Mir war früher schon die kleine Jazzbar an der Ecke aufgefallen, aus der stets laut Musik spielte. Die Tür war diesen Abend wie immer offen und man hörte schon auf der Straße die Musiker einspielen.

Die Bar war sogar noch kleiner, meine Freunde und ich waren die einzigen Gäste. Die Musiker waren zusammen mit dem Barkeeper in der gleichen Anzahl wie wir. Mehr hätten auch nicht reingepasst, die Bar war ohne Küche so groß wie das Zimmer, aus dem ich bald ausziehen musste.

Es gab Geschenke, Alkohol und kalte Nudeln. Dann fing der erste an zu spielen. Mit seiner Gitarre setzte er sich vor eine Leinwand und im Hintergrund war das Meer zu sehen. Vereinzelt tauchten zu seinem Gesang noch Inseln auf. Mein Japanisch war zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht. Das war ja auch der Grund, warum ich keinen Job finden konnte. Von seinem Lied verstand ich nur “Hiroshima” und “Kampf”. Ich fragte eine japanische Freundin, worum es denn geht.
“Oh”, sagt sie, “er singt vom Bau des Atomkraftwerks vor Hiroshima und den Protest dagegen.”

Wie bitte?

Ich hatte noch nie davon gehört, dass in der Nähe von Hiroshima ein Atomkraftwerk gebaut wird. Wie kann man eigentlich nur auf so eine Idee kommen? Und dann gibt es Proteste? In Japan wird doch nicht demonstriert, dachte ich.
Wie gesagt, das war zwei Tage vor 2010. Fukushima war noch weit entfernt.

Ich war wie angezündet. Da musste ich hin. Ich muss darüber berichten. Ich muss Leute interviewen, ich muss Fotos machen, ich muss darüber schreiben.

An einen Rückflug war jetzt nicht mehr zu denken. Ich nahm dieses Erlebnis als Zeichen. Es gab noch einen Grund für mich im Land zu bleiben. Ich konnte jetzt nicht einfach gehen!

Beginn der Recherche
Die Entscheidung zu bleiben war die beste, die ich je getroffen hatte. Keine zwei Wochen später bekam ich den Auftrag für eine zehnteilige Serie in einem deutschen Magazin. Auch bekam ich endlich einen Nebenjob mit regelmäßigen Einkommen. Ich fand in der gleichen Woche auch meine neue Wohnung in Nakano, in der ich die folgenden sechs Monate wohnen sollte. Nie lebte ich glücklicher.

Die Reise nach Hiroshima sollte zwar noch etwas warten, aber die Geschichte schwebte in den folgenden Wochen stets vor meinen Augen. Es war schließlich der Grund, warum ich überhaupt noch hier war.
Meine ersten Recherchen ergaben dann genau das, was ich bereits vermutet hatte. In der westlichen Presse, vor allem in den deutschen Medien gab es noch nie etwas dazu. In der Nähe von Hiroshima, auf einer Halbinsel sollte ein Atomkraftwerk gebaut werden. Alle waren dafür. Alle bis auf eine kleine Insel, direkt vor der Baustelle. Ihr ist es zu verdanken, dass bis heute nicht einmal das Fundament gebaut werden konnte.
Diese Geschichte hatte alles. Der Kampf David gegen Goliath, Proteste im protest-freien Japan und moderner Großkonzern gegen traditionelles Leben auf der Insel. Mir wurde also eine exklusive Geschichte auf dem Silbertablett überreicht. Als Geburtstagsgeschenk. Egal wie ich die Geschichte machen würde, es könnte gar nicht schief gehen. Das gab mir Selbstvertrauen.

Mehr noch beantwortete Hiroshima aber eine Frage für mich. Ich war zu dem Zeitpunkt 22. Sicher hatte ich immer schon Journalismus-Kram gemacht, aber so wirklich sicher, ob es das richtige für mich war, war ich nie. Wie man mit Anfang 20 eben unsicher ist. Und ob es jetzt Schreiben oder Fotografie werden sollte, das wusste ich nicht. Beides mochte ich, aber stets wurde mir gesagt, ich solle mich spezialisieren und eines aufgeben.
Als ich von der Geschichte in Hiroshima hörte, war mein erster Impuls: Da musst du hin und drüber berichten.
Das war meine Antwort.

Nachtbus für 11.500 Yen
Aber alleine konnte ich das natürlich nicht alles schaffen. Schon gar nicht mit meinem Japanisch. Ich brauchte eine Übersetzerin. Eine gute japanische Freundin, die schon bei meinem Geburtstag mir die Liedzeilen des Sängers übersetzte, war begeistert von der Geschichte. Es war eine lang ersehnte Abwechslung zu ihrem Bürojob. Unentgeltlich half sie mir bei der Recherche und telefonierte uns Kontakte zusammen. Sie bezahlte auch ihre eigenen Reisekosten, sie wollte einfach Teil des Ganzen sein.
Es war nicht die erste Geschichte, bei der sie mir half. Der Haken war allerdings, dass wir nur nach Hiroshima konnten, wenn sie keine Arbeit hatte. Wir warteten also bis zur Golden Week, eine Woche mit Feiertagen, an denen ganz Japan frei hat und verreist.

An dem Umstand, dass ich pleite war, hatte sich inzwischen kaum was geändert. Ich pumpte mir Geld von meinen Eltern (“Ich muss das jetzt machen!”), was zusammen knapp für eine Übernachtung, Essen und den Nachtbus nach Hiroshima reichte. Eingeplant waren fünf Tage und erstmal ein Interview. Den Rest wollte ich vor Ort improvisieren

Ich kann in Bussen nicht schlafen. Auch wenn sich der Fahrer viel Mühe gab und kostenlos aufblasbare Nackenkissen und Decken verteilte.
Der Nachtbus von Tokyo nach Hiroshima und zurück kostet umgerechnet 110 Euro, braucht elf Stunden und macht alle drei Stunden Rast. Bei der letzten Rast ging die Sonne auf.

In Hiroshima angekommen fing ich an zu husten. Elf Stunden unter der Klimaanlage waren nicht gut. Meine Stimme war schon halb weg und mir grauste schon vor den geplanten Interviews.

Nach einem Frühstück im Conbini gingen wir zum ersten Termin des Tages. Dazu mussten wir durch den Peace Park, dem Zentrum und Gedenkstätte der Explosion der Atombombe 1945.

Der “Atombomben-Dom” präsentierte sich bedrohlich als Mahnmal vorm bedeckten Himmel.

Wir waren verabredet im “Rest House”, das war eines der wenigen Betonbauten, die nach der Bombe noch standen. Dort war ein Touribüro untergebracht, sowie die Hiroshima-Filmkommission und Öffentlichkeitsarbeit. Ich traf dort Tomoko, mit der ich schon im August 2009 zu tun hatte. Ich hatte damals überlegt, dem Jahrestag der Bombenexplosion beizuwohnen, es klappte dann aber zeitlich nicht. Doch mit Tomoko hatte ich ganz guten Kontakt gehabt und wollte einfach mal Hallo sagen.

Ihr Englisch war simpel, aber sehr gut. Sie hatte es sich selbst beigebracht, allein mit den Englisch-Stunden im Radio von NHK. Ihr Mann wurde irgendwann mal nach Hiroshima versetzt und sie zog hinterher. Seitdem betreut sie hier ausländische Medien und die Überlebenden der Atombombe. Beide werden jedes Jahr weniger.
Erst im Hinausgehen sprach ich das Atomkraftwerk an. Ich wusste, dass der Bürgermeister von Hiroshima für den Bau des Kraftwerks war. Die Stadt wurde mit dem perversen Versprechen gewonnen, dass der erste Strom, der im AKW erzeugt wird, nach Hiroshima gehen und den Atombomben-Dom erleuchten soll. In Blutrot.
Tomoko, als Angestellte im öffentlichen Dienst, war also sicher angehalten, auch dafür zu sein. Doch überraschend ehrlich und direkt erzählte sie mir, wie dämlich sie Kernkraft im Allgemeinen, und das geplante AKW vor Hiroshima im Besonderen, hält. Ich beobachtete ihre Kollegen. Keiner regte sich. Wahrscheinlich verstanden sie das Englisch einfach nicht und sie fühlte sich daher frei zu sprechen. Zusammen verließen wir das Büro.

Wir sollten Helme aufsetzen, sie würde uns gerne etwas zeigen. Zusammen gingen wir die Treppe runter. Sie ging voran.

Der Keller des “Rest House” sieht heute fast noch so aus, wie nach der Explosion 1945. Schon damals war das Haus Sitz für ein Amt. Tomoko erzählt mir die Legende von einem Beamten, der in den Keller geschickt wurde, um Akten zu holen. Er war noch im Keller, als die Bombe abgeworfen wurde und knapp 1.000 Meter über ihm explodierte. Doch ihm passierte kaum was. Oben zerbarsten die Fenster, die Scherben schnitten Gesichter und Arme auf. Doch der Beamte im Keller war sicher, ihm flogen nur die Aktenordner um die Ohren. Aber er überlebte. So viel Glück hatten die knapp 70.000 Menschen, die sofort verdampften, nicht.

Wie viel an der Legende wirklich dran ist, kann ich nicht sagen. Aber sie ist unterhaltsam. Denkt dran, wenn euch euer Chef das nächste Mal in den Keller schickt.

Mit Tomoko gingen wir dann noch etwas durch den Peace Park. Wir sprachen über meine geplante Recherche und die Insel. Sie hatte natürlich schon davon gehört und fand es großartig, dass endlich mal einer aus dem Ausland kommt und darüber berichtet. Sie konnte mir allerdings nicht mit Kontakten weiterhelfen.


Coverfoto

Nach einer Portion Okonomiyaki ging es zum ersten Interview. Wir sollten unseren Mann in der Zentrale von Chugoku Denryoku treffen, dem einzigen Energiekonzern der Region – und der Konzern, der das AKW seit 1988 bauen möchte. Ich war skeptisch. Der Mann sollte die Leitung im Widerstand gegen das Kraftwerk in Hiroshima haben und wir sollten ihn im Konzern treffen? Er sollte auch Aktien an der Firma besitzen?

Wir warteten in der Lobby. Ein älterer Sicherheitsmann mit tiefen Falten im Lächeln kam auf uns zu. Er wunderte sich sicher, was dieser hustende, langhaarige Blonde mit seiner blauen Mütze und einer Japanerin hier macht. Vorsichtig erklärten wir uns. Auch er freute sich, dass wir hier sind und endlich über das AKW berichten. Er selbst lebte sein Leben lang in Hiroshima, er war fünf Jahre alt als die Bombe fiel. Seine Schwester kam mit Gendefekten und Verwachsungen auf die Welt, eine Folge der radioaktiven Strahlung. Er will auch kein AKW vor Hiroshima sehen. Warum arbeitet er dann hier, frage ich ihn. Es ist sein Job und es ist seine Firma, sagt er. Er unterstützt die Entscheidungen seiner Firma nicht, aber es ist trotzdem seine Firma. Und in Hiroshima, ja in ganz Südwest-Japan hat man nur zwei Optionen: Entweder man bekommt seinen Strom von Chugoku Denryoku, oder man bekommt keinen Strom. So simpel ist das. Hier gibt es nur einen Stromkonzern.

Jeder kämpft mit anderen Mitteln
Ziemlich erbost kam dann unser Kontaktmann aus dem Aufzug. Der 61 jährige Kihara fluchte leise und höflich auf Japanisch. Uns erkannte er gleich. Der Wachmann begrüßte ihn gleich freundlich. Beide standen auf der selben Seite, man kennt sich. Da meine Stimme inzwischen fast weg war, gab mir der Wachmann noch ein Bonbon zum Abschied. Zusammen mit Kihara gingen wir in das Restaurant eines teuren Hotels, direkt gegenüber. Er orderte einen Kaffee, den er zum Glück auch selbst bezahlte. Ich traute mir nicht mal ein Wasser zu bestellen. Als mein Husten seine Antworten störte, bot er mir sein eigenes Glas an. Inzwischen bekam ich kaum noch Sätze raus, ich musste die Fragen aufschreiben und meiner Freundin zum Übersetzen vorlegen. Was er erzählte schrieb ich in mein schwarzes Notizbuch.

Auch er stammte aus Hiroshima und ist von der Atombombe betroffen. Das lernte ich schnell. In Hiroshima hat jeder direkt oder indirekt mit der Atombombe zu tun. Es betrifft jeden. Die Bombe schwebt heute noch über der Stadt, keiner kommt an ihr vorbei.
Kiharas ältere Schwester kam ohne Wirbelsäule auf die Welt, er selbst wurde ein paar Jahre nach 1945 geboren. Gesund. Er kämpft seit Jahrzehnten gegen Atomkraft. Warum hält er dann Aktien am Konzern frage ich ihn. Ein Baustopp würde ja Verluste für die Firma bewirken und dementsprechend auch Verluste für ihn. Er hält inne und erklärt es mir.
Aktien sind Teile der Firma. Wer Aktien hält, kontrolliert die Firma. Er kauft Anteile und versucht andere Aktieninhaber des Konzerns zu überzeugen, so wie er gegen den Bau zu stimmen und so den Konzern zu lenken. Das ist sein Kampf, sagt er. Es ist genau so, wie vor dem Konzern zu stehen und zu demonstrieren, was er einmal pro Jahr auch macht. Aber, so vermutet er, seine Methode ist effektiver. “Wenn ich nur emotional agiere”, sagt er, “nimmt mich keiner ernst.”

Er war mein erster und bis dahin auch mein einziger Kontakt. Das sagte ich ihm. Wenn die Geschichte weiter gehen sollte, brauchte ich mehr Kontakte. Ich machte Druck. Er gab uns fünf Nummern, die wir heute noch anrufen sollten.
Zusammen liefen wir noch ein Stück bis zur Bahn. Am Ende der Straße zeigte er auf ein Gebäude. Dort sitzt die Redaktion der Chugoku Shimbun, die größte Zeitung in der Region. Er hasste diese Zeitung, auch wenn er niemals ein so starkes Wort benutzen würde. Die würden nie über das AKW oder den Konzern berichten, sagt er. Ist ja auch logisch. Auch Redaktionsräume brauchen Strom.

Telefonlawine
Der erste Tag in Hiroshima war vorbei und wir hatten nichts. Wir wussten nicht, wie es weiter geht oder wo wir die nächsten Tage übernachten sollten. Natürlich würden wir mal zu der Insel rausfahren. Aber wo genau sie lag und wie wir fahren müssten, das konnte uns selbst Tomoko nicht sagen. Wir hatten allerdings fünf Nummer.

Auf dem Dach des billigen Hostels, in dem wir übernachteten, telefonierten wir sie alle mal durch. Ich kann mich noch genau an den grünen Rasen aus Kunststoff erinnern, der unter den Gartenstühlen aus Plastik auf dem Dach lag. Daneben standen drei Waschmaschinen und zwei Trockner. 100 Yen pro Durchgang. Es gab hier wie so oft in Japan keine Aussicht. Alle Häuser um das Hostel waren höher. Wir hofften, dass die Nummern unsere Aussicht bessern würden.

Meine Begleiterin war schon bei der vierten Nummer, ohne dass die drei zuvor Erfolg verhießen. Sie war unsicher und aufgeregt, ja geradezu panisch, dass alles schief gehen wird. Diese Möglichkeit gab es durchaus. Doch ich ruhte in mir. Ich hatte nix zu verlieren, nur zu gewinnen. Zudem fand ich das alles so aufregend, dass ich kaum Zeit für Zweifel hatten.

Nummer Vier hob den Hörer ab. Ja klar hätte er morgen Zeit für ein Interview. Er wohnte in der Nähe der Insel, wir sollten mal vorbeikommen. Am besten nehmen wir den Zug in Hiroshima.

Wusst ichs doch.

Jetzt wurde ich frech. Ich wusste, dass wir kein Geld für eine weitere Übernachtung hatten. Ich ließ ihm ausrichten, dass wir kaum Mittel für die Recherche haben und wir irgendwo übernachten müssen, sonst platzt die Geschichte. Ich pokerte. In der Hoffnung, dass die Aussicht auf einen Bericht über den Konflikt ihn genug ködern würde. Heute würde ich das nicht mehr machen. Heute bin ich vorsichtiger. Damals jedoch stand ich mit dem Rücken zur Wand und machte meinen Kontakten den Druck, den ich persönlich verdrängte.
Mit Erfolg. Wir könnten im Büro seiner Firma schlafen, er würde uns mit dem Auto abholen.

Oft habe ich mich in den Monaten danach an das Dach in Hiroshima erinnert. An das aufregende Gefühl, an was ganz Großen dran zu sein. An dem Rausch, dass mir als Journalisten Türen und Betten offen stehen, wenn ich nur energisch genug bin.
Es half natürlich, dass nicht ich die Forderungen stellte, sondern meine Begleiterin, auf Japanisch. Ich musste nur delegieren und nicht persönlich formulieren. (Sie fand das übrigens gar nicht gut, dass ich so unhöflich und direkt nach einer Übernachtung fragte.)

Unter das Interview mit Kihara notierte ich mir in dieser Nacht in mein Notizbuch: Ich hab Bock Fotos zu machen! Bislang machte ich kaum welche, ich war mehr mit Recherche, Interviews und Gesprächen beschäftigt. Einmannjournalismus.

Als ich am nächsten Morgen im Achtbett-Zimmer des Hostels aufwachte, schmerzte mein Hals zwar noch, aber meine Stimme war wieder fast da. Unser Termin war um 18 Uhr und zwei Stunden von Hiroshima entfernt. Es war also noch genug Zeit. Meine Begleiterin drängte, dass wir uns doch die Schreine von Miyajima anschauen könnten. Sie liegen ja auf dem Weg, an der Küste. Ich wollte zwar lieber in Hiroshima fotografieren, und die Aussicht auf einen kostenpflichtigen Umweg gefiel mir nicht. Aber da ich sie letzte Nacht ziemlich unter Stress setzte, gönnte ich ihr den Trip mal lieber.

Nach dem Schrein kamen wir am Abend dann hungrig irgendwo im Hinterland der Yamaguchi-Präfektur an. Unseren Kontakt sollten wir im Gemeindehaus treffen.

Knapp eine Stunde ließ er uns warten. Er kam gerade aus einer Konferenz mit der Lokalregierung, es ging mal wieder um das Kernkraftwerk.
Sein Name war Yamato, Mitte 30 und Farmer auf der Insel Iwaishima. Er gehört zu den wenigen Jungen auf der Insel. Drei Viertel der Bewohner sind über 60 Jahre alt, erzählte er uns in der großen, leeren Halle des Gemeindehauses. Er gab uns Pamphlete des Protests, die er gedruckt hatte. Ansonsten war er wortkarg. Sein Händedruck war kräftig, seine Haut von der täglichen Arbeit unter der Sonne ungewöhnlich dunkel für einen Japaner. Bei jeder Frage verwies er nur auf das Pamphlet.

Dann gab es einen kurzen Vorfall. Er erzählte eine Sache, ich weiß heute nicht mehr was es war, und meine Begleitung wusste es damals auch nicht. Ich wurde frustriert. Die Sache schien mir wichtig für die Geschichte zu sein. Ich machte ihr Druck, dass sie es doch irgendwie erklären sollte, was das heisst. Doch sie konnte nicht. Da klingelte das Handy. Gleich würden wir mit dem Auto abgeholt werden. Yamato ging schon mal raus. Ich merkte, wie meine Übersetzerin niedergeschlagen war. Jetzt erst merkte ich, dass ich zu weit ging. Ich entschuldigte mich. Zu verbissen verfolgte ich die Geschichte, ungeachtet der Menschen um mich herum. Ich wollte ab jetzt einen Gang zurück schalten.

Das Insel-Trio
Im chinesischen Restaurant waren wir dann zu fünft. Meine Begleitung, ich, Yamato, sein Vater und noch einen, den ich lange Zeit für Yamatos Vater hielt. Sie luden uns zum Essen ein. Gottseidank.
Yamatos Vater hatte eine Ausgabe der Chugoku Shimbun dabei. Sie berichtete überraschenderweise über den Energie-Konzern Chugoku Denryoku. Der hatte nämlich tags zuvor eine Presserklärung rausgegeben, in der sie knapp über tausend Fehler in ihren Kraftwerken offenlegten. Von der Zeitung Chugoku Shimbun gab es keine eigene Recherche, es wurde nur die Presserklärung abgedruckt. Der Tisch hatte schlechte Laune, bis ich die Zeitung nahm und in meine Tasche steckte. Über das AKW und sie war kein Wort in der Zeitung.

Morgen geht es auf die Insel, sagten sie, kauft vorher noch ein. Naiv fragte ich, ob es denn auf der Insel nicht, wie überall in Japan, auch einen Conbini gibt. Alle drei lachten. Das muss ja eine besondere Inseln sein, dachte ich mir.
Meine Begleitung war immer noch etwas verstimmt, also bezahlte ich unseren Proviant für morgen im Supermarkt. Ich kaufte noch eine Großpackung Kit Kat. Eigentlich gedacht als Nervennahrung für uns. Sie sollten aber noch sehr nützlich sein.

Die Drei brachten uns dann zum Büro ihrer Firma, wo wir übernachten sollten. Der Schlüssel war im Briefkasten, aber die Tür war eh auf. Wir waren alleine. Überall klebten Plakate, Poster und Banner, die vom Protest erzählten.

Es war das Büro ihrer Fischereigemeinschaft. Das musste sich auf dem Festland befinden, sagten sie. Sie selbst nahmen aber ihr Boot und setzten zur Insel über, auf die wir ihnen morgen mit der Fähre folgen sollten.

Wir schmierten uns Brote und machten uns pünktlich aus dem Haus, um genau 6.30 Uhr die Fähre am Ende der Straße zu erwischen.
Als wir zum Hafen gingen, konnten wir die Fähre schon sehen. Sie fuhr bereits los. Ohne uns.

Die Fähre zur Insel geht nur drei Mal pro Tag, die nächste kommt erst in sechs Stunden. Mit der Fähre schwimmt mir die Zeit für Interviews davon, dachte ich mir. Während ich noch am Überlegen war, wie es weiter geht, überraschte mich meine Begleitung. Mit einer Selbstsicherheit, die ich von ihr nicht kannte, ging sie zum Hafen und fragte die Leute auf ihren Booten, ob sie uns zur Insel fahren konnten. Mein Verhalten der letzten Tage hatte wohl auf sie abgefärbt. Wir waren so nah. Jetzt wollte auch sie es wissen.

Zwei Männer, die gerade ablegten, meldeten sich. Eigentlich wollten wir ja nicht zu dieser Insel fahren, aber springt mal an Bord.

Noch völlig perplex sprang ich, Kameratasche vorran, vom Steg. Meine Begleitung grinste mich nur stolz an.
Die beiden Bootsmänner waren Freunde und machten jedes Jahr zur Golden Week eine Bootstour. Dieses Jahr ist die Seto-Inlandsee dran. Sie führen auch einen Blog über ihre Reise, wo wir beide dann später drin auftauchten. Als Yacht-Hitchhiker.
Als Dank für unsere Mitnahme gab ich ihnen etwas aus dem Kit Kat-Beutel.

Die Insel fanden sie ohne Probleme auf der Karte.

Die Sonne ging gerade über der See auf.

In der Fähre hätten wir nur drinnen sitzen können, mit Blick aus der Fensterscheibe, die von den Wasserflecken der Gischt ganz benebelt gewesen wäre. Hier waren wir an Deck, an der frischen Luft. Hunderte von kleinen, unbewohnten Inseln der Seto-See und das fast glatte Meer begleiteten uns im Sonnenaufgang. Unmittelbar.

Die Fähre legte ohne uns ab, weil diese sonst nämlich nur Einheimische transportiert. Sind da alle bekannten Gesichter an Bord, wird eben schon früher abgelegt, ohne auf die Fährzeiten zu warten.

Hier an Bord erzählten wir natürlich auch vom Grund unserer Reise. Das war alles vor Fukushima, die über 50 Atomreaktoren in Japan wurden von der Allgemeinheit noch als notwendig angesehen. Unsere zwei Bootsmänner äußerten sich auch nicht direkt gegen Atomkraft. Aber, so fragten sie rhetorisch auf das Wasser hinaus, wenn Atomkraft so sicher ist, warum baut man dann kein Kraftwerk neben den Kaiserpalast?

Ein Jahr später, ich war wieder zu Besuch in Japan, sprach ich mit meiner Begleiterin erneut über diese Bootsfahrt. Sie erinnert sich noch sehr genau an den Geruch vom Salzwasser oder die warme Morgensonne auf der Haut. Woran ich mich erinnere? An den Stress und die Interviewfragen, die ich an diesem Tag alle noch stellen musste.

Viel konnte nun zwar nicht mehr schief gehen. Trotzdem war ich konzentriert. Ich hatte keine formale Ausbildung als Journalist, ich konnte mich nicht auf einem Handwerk ausruhen. Ich musste mich konzentrieren.

Die Fischerboote wurden mehr, je näher wir der Insel kamen.

Und da war sie dann. Iwaishima. Die Insel, die zu meinem Geburtstag besungen wurde, die mich in Japan hielt und die ich suchte. Ich bekam tatsächlich etwas Gänsehaut.

Wie es auf der Insel weitergeht, wen wir noch trafen und was ich aus meinem ersten Buch lernte, dann im nächsten Teil.

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Meine Bücher

Buch I – “No more Hiroshima”:
Meine wichtigste Geschichte (1. Teil / 2. Teil)
Buch II – Fukushima? War da mal was?:
Mein Fukushima
Buch III – Japan 151:
Mein Japan

Shop: Bücher, auf denen mein Name steht

11 thoughts on “Meine wichtigste Geschichte, 1. Teil”

  1. Wenn ich die Bilder der Bootsfahrt sehe, bekomme ich gleich wieder Fernweh. Segeln ist eben die schönste Fortbewegungsart.
    Kann es sein dass du nie was von deinen Büchern erzählt hast? 😉 Soll ich mir eines kaufen? Armer Student, aber das klingt interessant…

    1. Ich hab halt hier und da mal im Nebensatz davon gesprochen. Ich mag halt Blogs nicht, wo an jeder Ecke dominant Bücher vom Autor angeboten werden. Schließlich soll das hier keine reine Werbeplattform zum Selbstzweck werden.Andererseits hat es auch Konsequenzen im “echten Leben”. Man gilt schnell als arrogant, wenn man mit Mitte 20 groß rumtönt, schon drei Bücher geschrieben zu haben. Aber so isses halt nun mal. Daher handle ich die jetzt mal im Block alle ab. Wer es kaufen möchte, kann es googeln. Und das Cover oben hab ich auch mit Amazon verlinkt.

      Wenn ich alle drei Bücher beschrieben habe, mache ich noch Rechts ne Seite “Buchhandlung”, mit allen Links. Das reicht dann auch.

      1. Ich glaube, eine kurze Notiz zu jedem Buch hätte dir keiner übel genommen.
        Eines leiste ich mir mal. 🙂 Wenn man schon so lange hier mitliest…

  2. […] verpassten dadurch eine der drei Fähren, die am Tag zur Insel fahren. So wie ich damals, 2010, als ich das erste Mal nach Iwaishima fuhr. Damals fragten wir im Hafen einfach herum, bis wir ein Boot fanden, das uns fuhr. Inspiriert […]

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