Puppen ohne Ende

Für eine Geschichte, die von jeder Redaktion abgelehnt wurde, ist sie erstaunlich langlebig: In den letzten sechs Monaten wurde meine Geschichte über die Puppen aus Nagoro groß im Stern gedruckt, im Fernsehen rauf und runter gespielt – und gelangte sogar bis ins National Geographic in den USA.Ja, wirklich.

Vergangene Woche überschritt der Zähler von “Valley of Dolls” auf Vimeo eine halbe Million Klicks. Zeit für einen neuen Rückblick.

Im Dezember 2014 war ich furchtbar pleite. Keiner wollte die Geschichte von den Puppen kaufen, meine Ersparnisse waren aufgebraucht und das Konto war im Minus. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Tag, an dem ich nur noch ein paar Scheiben altes, trockenes Brot hatte, welche meine Mutter mir in Berlin noch in den Rucksack steckte. Auf das Brot packte ich das einzige, was sonst noch im Kühlschrank war: Butter und Gurkenscheiben.

(War allerdings sehr lecker)

Die Wende kam zum Glück schon eine Woche später.

Doch der Reihe nach: Ende November 2014 schrieb ich das erste Mal über die Entwicklung meiner Geschichte “Im Tal der Puppen” in den deutschen und internationalen Medien. Ich dachte zu dem Zeitpunkt, dass nun nichts mehr kommen wird, da die Geschichte so häufig publiziert und kopiert wurde.
Am nächsten Morgen verlinkte Bildblog.de in der Rubrik “6 vor 9” auf exakt diesen Beitrag und sorgte für die meisten Zugriffe auf dieses Blog seit seiner Gründung.
Bildblog ist eine wichtige Seite für Medienmacher, viele Journalisten lesen es täglich. So auch ich.

Neulich war ich bei einem Treffen von Reportern und brauchte nur wenige Worte sagen, da zeigte schon ein mir bis dahin unbekannter Kollege mit dem Finger auf mich und meinte: “Du bist der Puppen-Mensch! Ich hab das auf Bildblog gelesen.”

Dezember 2014
Eine Woche nach dem Eintrag schrieb mir die Telekom. Beziehungsweise es schrieb mir die Redakteurin von telekom.de, welches auch eine “News & Stories”-Sparte hat. Dafür wollten sie nun die Bilder der Puppen. Erst ohne Geld, dann mit Geld, aber für weniger, als ich sonst nehme. Nach ein paar Mails hin und her kamen wir beide auf eine Summe, die nicht ganz so weh tut (und mein Kühlschrank verhandelte mit).
Das war an einem Dienstag Morgen. Das weiss ich noch so genau, weil ich zu dem Zeitpunkt in einem furchtbaren total spannenden Seminar saß und die Bilder nicht schicken konnte. Dienstag Mittag jedoch kam dann die Absage der Telekom, man hatte es sich anders überlegt.

Was war passiert?
Nun, AP hatte die Geschichte kopiert.

An dem Dienstag, gegen mittag deutscher Zeit, ging das Material über die Puppen von der Agentur Associated Press online. Und die Tarife von AP sind billiger preiswerter als die eines freiberuflichen Journalisten. Telekom.de publizierte die Geschichte kurze Zeit später. Ohne mein Material, aber mit den Fotos von AP.

Ich sprach mit der Journalistin von AP, wie sie denn auf die Geschichte gekommen ist. Auf Twitter bestätigte sie mir, dass meine Geschichte “eine große Hilfe” gewesen ist.

Man hat kein Patent auf eine Story. Ist sie draußen, kann jeder sie nachmachen. AP stellte jetzt billiges preiswertes Bildmaterial der Puppen zur Verfügung.
Gut, dachte ich, ich hatte meine Erfolge und Publikation gehabt, das wars jetzt endgültig. Wer sollte mich jetzt bitte noch anrufen und meine Bilder kaufen, wenn er gleichzeitig das günstige Material von der Agentur bekommen kann?

Eine Woche später rief der Stern an.

Tatsächlich brachte die Veröffentlichung von AP noch mal ein großes Interesse an meiner Arbeit. Innerhalb einer Woche gab es eine Flut von Anfragen. Der Stern wollte es auf sechs Seiten drucken und eine Zeitung aus Südafrika bat mich um ein Interview. Auch D-Radio Wissen führte mit mir ein Gespräch im Rahmen eines Themenabends.

Das mit dem Stern hat eine Vorgeschichte. Ich hatte der Redaktion damals im April 2014 die Geschichte exklusiv angeboten. Damals hieß es “schöne Geschichte, passt aber nicht.” Im Juni 2014 schrieb mich dann Stern View an, sie wollten eine Doppelseite bringen. Aber nach der ersten Mail kam dann nichts mehr. Jetzt im Dezember hatte ich schon nicht mehr damit gerechnet, es je im Blatt zu sehen. Doch spätestens als ich es dann im Kiosk bei mir um die Ecke gedruckt im Stern sah, glaubte ich dran.

Im Studium sagte man uns, dass der Stern nur Exklusives druckt und man gar nicht probieren sollte, nach einem Abdruck in einem anderen Blatt es noch dort anzubieten. Der Stern war jetzt im Dezember 2014 ungefähr die achte Redaktion, welche meine Geschichte druckte. Die Medienlandschaft ändert sich…

Bei jeder Publikation gilt: Je größer ein Foto gedruckt wird, desto teurer ist es. Eine Foto-Doppelseite im Stern für einen freien Fotografen bringt, soweit ich weiss, etwas unter 1.000 Euro.
Groß gedruckt im Stern wurden die Bilder von AP, die kleineren stammten von mir. Im Text wurde ich erwähnt und aus meiner Arbeit gab es Zitate. Stern Online hat die Geschichte auch gekauft. Für alles zusammen habe ich weniger bekommen, als das Honorar einer Doppelseite. Auch hier gilt: Der Abdruck von Agentur-Fotos ist billiger preiswerter, als die von freien Fotografen.

Puppen in der Welt
Wie im letzten Teil erwähnt hatte die Vanity Fair in Italien 16 Fotos aus dem Video geklaut und eine Klickstrecke für ihre Website gebastelt. Ich ließ das über meinen Rechtschutz bei djv/ver.di laufen und wir konnten sehr schnell eine Einigung erzielen. Kurz vor Weihnachten ging dann ein vierstelliger Betrag der Vanity Fair auf mein Konto ein.
Und wer sagt: “Als freier Journalist bloß nicht klagen, man kriegt nie wieder Aufträge” dem sage ich: Nur einen Monat später erhielt ich eine Anfrage vom gleichen Verlag zu Houshi. Es war denen einfach egal.

National Geographic schrieb mir in der gleichen Woche wie der Stern. Ich dachte erst, das kann nicht wahr sein und fragte erstmal nach. “Ist das euer Ernst? Wollt ihr wirklich diese unfertige Arbeit?”. Sie wollten. Über Weihnachten habe ich das Video noch mal etwas überarbeitet und bereinigt. Es ist schließlich National Geographic!

Im Januar ging es dann online.

Eine Woche später hatte ich einen Termin bei meiner Bank. Der Angestellte hatte zwar keine Ahnung von Fotografie oder Journalismus, aber ich brauchte nur mal “National Geographic” sagen und er legte jede Skepsis bei meinen Anträgen ab.

Ebenfalls im Januar gab es ein Filmfestival in London, welches die Puppen zeigte. Es war das nunmehr vierte Festival, aber das erste, von dem ich Fotos habe.


Quelle

Im März 2015 zog dann Reuters nach und publizierte ihr eigenes Material zu Nagoro. Ob da nun die Inspiration von mir stammte oder von AP ist nicht mehr zu sagen. Inzwischen sehe ich das auch alles entspannter. Ich hatte meinen Erfolg und trotz dieser Flut an billigen preiswerten Material wurde meine Arbeit immer noch nachgefragt. Nur die Veröffentlichung in Die Welt und in der Zeit machten mich etwas traurig. Beiden Redaktionen hatte ich lange vorher die Geschichte angeboten, mit der Welt stand ich sogar in Verhandlung. Aber es wurde nichts draus. Ich will ungern daran glauben müssen, dass es am Ende nur eine Frage des Geldes und nicht der Geschichte war.

Wie schon bei AP brachte die Veröffentlichung von Reuters noch mal ein neues Interesse an meiner Arbeit. Das Magazin Foreign Affairs aus den USA kaufte die Geschichte zwei Wochen nachdem Reuters damit online ging. Ich schrieb auch den Text dazu, was mein erster englischsprachiger journalistischer Text seit einigen Jahren war. Ging trotzdem ganz gut von der Hand.

Das Harper’s Magazine aus New York meldete sich auch, aber die wollten nur Infos von mir, den Rest erhielten sie von Reuters. Sonst würd ich sowas ja nicht ohne Weiteres machen, aber ein kurzer Blick auf das linked.in Profil der Kollegin (die mit Nachnamen tatsächlich “Love” hieß) zeigte mir, dass sie eine ewige Praktikantin in New York ist, die sich von Redaktion zu Redaktion hangelt. Da war ich solidarisch.

Im Mai 2015 dann endlich waren die Puppen auf Pro7 zu sehen. Galileo Big Pictures war ja die erste deutsche Redaktion, die mich überhaupt angeschrieben hatte.

Als ich anfing mich für Fotografie zu interessieren – es muss so zum Abitur gewesen sein – lief die allererste Ausgabe von Galileo Big Pictures. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich saß in meinem Zimmer in der Wohnung meiner Eltern und sah diese fantastischen Bilder aus der ganzen Welt. Insgeheim dachte ich mir: Irgendwann will ich auch mal so gut sein, dass meine Bilder im Fernsehen gezeigt werden.
Es klingt so naiv, dass jetzt aufzuschreiben. Schließlich habe ich seitdem so viel mehr publiziert. Aber ungefähr sieben Jahre nach diesem Abend im Jugendzimmer waren meine Bilder tatsächlich im Fernsehen zu sehen.

Und sie haben den Moderator sogar in das Foto montiert, hihi.

Man kann ja von Galileo halten was man will. Essensberichte aus der ganzen Welt, Fabrik-Besichtigungen großer Konzerne oder die eine oder andere falsch beschriftete Karte. Aber fakt ist, die Zusammenarbeit war besser und angenehmer, als mit den meisten Printredaktionen, die ich kenne. Sie haben pünktlich & gut gezahlt und mein Name wurde ständig beim Foto eingeblendet (tatsächlich keine Selbstverständlichkeit mehr). Der Kontakt vorher war auch immer professionell und akkurat. Gerne wieder.

Vor zwei Wochen waren die Puppen auch im ZDF Mittagsmagazin zu sehen, aber ohne mein Material. Der Beitrag lief vorher schon in einem anderen ZDF-Format (und ich find ihn besser gelungen als den von der ARD).

Puppen mit (vorläufigem) Ende
Die Geschichte ist jetzt schon etwas länger als ein Jahr online. Ich würde sie nicht als meine beste Arbeit bezeichnen wollen, aber es ist definitiv die erfolgreichste. Es hat Türen geöffnet und war ein gewisser Wendepunkt für mich als junger Journalist. Ich konnte lernen, wie die Medienlandschaft heute funktioniert. Ich habe auch verstanden, dass eine Geschichte, die keiner am Anfang haben will, nicht schlecht sein muss. Nirgends, wo ich sie angeboten hatte, wurde sie genommen. Alle Veröffentlichungen oder Verkäufe konnten nur entstehen, weil das Video ein Selbstläufer online war.

Ich denke aber auch, dass der Lauf jetzt vorbei ist. “Im Tal der Puppen” hatte ich in den letzten Monaten noch bei einigen Sachen eingereicht, aber nirgends kam etwas zurück. Die Geschichte hat sich auch etwas Ruhe verdient.

“Houshi” hat zwar inzwischen eine Viertel Million Views (plus noch einmal genau so viel auf TheAtlantic), aber eingeschlagen wie die Puppen hat es nicht. Auch mein neuester Film braucht noch etwas, bis er richtig Fahrt aufnimmt.
Von jeder Geschichte so einen Höhenflug zu erwarten, wie bei den Puppen und dann enttäuscht zu sein, wenn es nicht so ist – dem war ich auch erlegen. Mittlerweile bin ich entspannt und konzentriere mich auf den nächsten Filn. Es wird der vorerst letzte aus Japan sein.

Jede Geschichte ist anders. “Houshi” hatte nach 24 Stunden 50.000 Views. Die Puppen brauchten damals zwei Wochen bis dahin, aber dafür hatten sie am Ende mehr. Nicht jede Geschichte brennt rasant oder hell. Aber es war spannend in das Leuchtfeuer der Puppen zu schauen und die Funken fliegen zu sehen.

Regenschirmblumen

Zum Jahrestag des großen Erdbebens vom 11. März 2011 hat der Künstler Mirey Hiroki 351 bemalte Regenschirme in Hiroshima aufgespannt. Am Abend fingen sie an bunt zu leuchten.

In den sechs Monaten, in denen ich jetzt schon in Hiroshima lebe, habe ich eins gelernt:
Hiroshima ist Stadt der Erinnerung.

Da gibt es die große, offensichtliche Vergangenheit, die jeder Mensch in der Welt kennt:
Hiroshima ist die Stadt, die von der Atombombe vernichtet wurde.

Alle Menschen hier haben direkt oder indirekt mit der Bombe zu tun. Ich habe bisher keinen getroffen, dessen Familiengeschichte nicht irgendwie damit verbunden ist. Selbst diejenigen, die von außerhalb in die Stadt ziehen, werden mit der Geschichte der Stadt konfrontiert und es verändert sie meistens.

Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Japan, ist in Hiroshima die Geschichte alltäglich. Fast alles erinnert an den Krieg. Selbst die kulturellen Festivals oder Fächer an der Uni haben irgendwie mit der Atombombe und der Last zu tun, die die Menschen von Hiroshima tragen müssen. Die Stadt tut alles, um in der Welt nicht vergessen zu werden. Damit die Opfer nicht vergessen werden. Damit der Schrecken vom Krieg nicht vergessen wird.

Am Anfang dachte ich noch: das alles ist zu viel. Ein Beispiel: Das internationale Filmfestival Hiroshima und das Friedens-Film-Festival finden drei Wochen hintereinander statt, mit einem ähnlichen Fokus, aber komplett seperaten Teams und Budgets. Zwei Festivals mit der gleichen Botschaft. Als außenstehender könnte man meinen, eines reicht.

In Nagasaki, der zweiten Stadt die von der Atombombe getroffen wurde, spricht man weniger gerne oder offen über diese Vergangenheit. Hier in Hiroshima jedoch verbreitet jeder Event die Botschaft von Friede und Erinnerung. Und es funktioniert.

In Deutschland werden von der Vierten Klasse an jedes Jahr in der Schule Nazis behandelt. In Geschichte, Politik, Deutsch, sogar Musik und Kunst. Während meiner Schulzeit ging mir das etwas auf die Nerven. Schon wieder Nazis? Haben wir nicht schon genug Grausamkeiten vom Krieg gelernt?
Dazu noch Besuche von Museen mit den Eltern oder Dokus im Fernsehen (Hitler hat eine größere Medienpräsenz heute als er sich damals je hätte wünschen können).

Mittlerweile habe ich aber wirklich zu schätzen gelernt, wie oft und wie viel man in Deutschland über die Geschichte im 2. Weltkrieg lernt. Gerade im Vergleich mit Japan. Hier ist das kaum ein Thema. Verantwortung für Kriegsverbrechen oder Entschuldigungen für die Sünden der Vergangenheit – das gibt es hier nicht. Viele Japaner wissen auch einfach nicht, was alles passiert ist. Die Schulbücher werden beschönigt und umgeschrieben.

Jede Veranstaltung in Hiroshima hilft, auch wenn sie sich vom Inhalt wiederholen. Jeder Event kämpft gegen das Vergessen. Jeder Anlass zeigt dem Rest von Japan und der Welt: Es gibt uns noch. Vergesst nicht uns und unser Leid.
Gerade wo in Japan nun schon so viel vom Krieg vergessen wurde. Und jedes Jahr werden die Überlebenden, die noch davon erzählen können, weniger.

Nun also der 11. März 2014, drei Jahre nach der Katastrophe:
In der “Stadt der Erinnerung” – wie wird da dem Erdbeben und der Tsunami gedacht?

Bunt.

Ich hatte den Künstler Mirey Hiroki letztes Jahr im November in Hiroshima bei seiner Ausstellung getroffen. Sie war im gleichen Gebäude wie meine Fotoausstellung. Das Künstler-Duo ist renommiert für “seinen kreativen Umgang und Anwendung von Wachsmalkreide und Buntstiften” hieß es in der Broschüre. Wir unterhielten uns damals kurz über das Konzept.

Die Idee für die Schirme entstand in Tokyo. Die Künstler saßen in Shibuya im zweiten Stock vom Starbucks, mit Blick auf die größte Straßenkreuzung der Welt. Bei Grün zappelten hektisch hunderte von weißen und transparenten Schirmen im Regen über die Kreuzung. Es sah so langweilig aus, dachten sie sich. Man müsste es bunt machen.

Zum Konzept gehört allerdngs noch viel mehr, was ich nicht ganz verstand. Die Farben und die Blumensorte haben auch eine Bedeutung, aber dafür reichte mein Wortschatz nicht.
Eine Woche später traf ich den Künstler wieder. Auf dem Internationalen Filmfestival Hiroshima. Er erkannte mich sofort. Ich brauchte etwas, um ihn ohne Brille einem Namen zuzuordnen.

Zum Event jetzt hatte mich eine Bekannte eingeladen, die ich bei der Arbeit für ein Projekt kennen lernte. Sie ist eine faszinierende Person, eine absolute Meisterin im Kontakte knüpfen. Sie kennt die halbe Stadt. Damals stellte sie mich auch gleich Regisseuren, Firmenbossen oder Café-Besitzern vor. Ihre Tochter nimmt sie zu vielen Events mit und gibt ihr eine prima Ausbildung, wie man netzwerkt. Immer höflich sein, immer Geschenke machen.

Mit dem Auto holte sie mich vom Wohnheim in den Bergen ab. Sie stellte es unweit der Schirme ab, im Parkhaus von einem Bekannten von ihr. Der Manager, ein “gruselig aussehender alter Mann”, ist großer Fan vom Manga One Piece. Auf den Parkscheinautomaten standen seine zahllose Figuren.

Um zwei Uhr sollten die Vorbereitungen beginnen. Es waren viele Leute da, die Mehrheit weiblich. Wer sich halt an einem Dienstag Nachmittag frei nehmen konnte.

Die Aufgabe waren simpel: Leuchtstäbe, die aussehen wie Dildos Laserschwerter mit Batterien füllen und mit Tape an die Schirme kleben.

Im Peace Park, mit Blick auf die Ruine vom Atombomben-Dom, gab es natürlich viele Schaulustige, Touristen und Fotografen. Wie Tauben schauten sie oben vom Zaun aufgereiht auf uns hinunter und machten alle die gleichen Bilder.

Ich fragte meine Bekannte, wo die ganzen Fotografen herkommen. Sie meinte, das sind alles Senioren mit zu viel Zeit und zu viel Geld für teure Kameras.
(Ein Dozent an meiner Uni prägte mal den schönen Begriff “Zahnwälte”, für Akademiker, die ihre Freizeit mit teuren Kameras füllen.)

Das Künstler-Duo war nicht vollzählig. Der Kollege saß in Tokyo und beobachtete alles online per Stream. Ich wurde gebeten, auch ein paar Worte in die Webcam zu sagen. Mir fiel aber nix ein, also fotografierte ich einfach Richtung Tokyo.

Häufig mussten wir zwischen den Vorbereitungen und angekündigten Terminen warten. Auch ich habe knapp 20 Schirme beklebt. Aber da wir so viele Helfer waren, entstand ein Leerlauf wo nichts erledigt werden musste. Ich war an dem Tag auch etwas müde und Nichtstun half da nicht. Wir machten kurz eine Teepause in einem Massage-Salon, neben dem Einkaufszentrum. Besitzerin vom Laden und vom Gebäude waren natürlich mit meiner Bekannten befreundet. Auf dem Weg dorthin konnte sie auch zu jedem Laden links und rechts vom Weg etwas erzählen. Fast überall kannte sie die Besitzer oder das Personal.

Gegen 17 Uhr zündete der Verein Christlicher Junger Männer Menschen Hiroshima dann ein paar Kerzen an.

Es wurde “It’s a wonderful World” gesungen und gebetet. “Beten” sollte man hier aber nicht christlich verstehen. Es war mehr als eine Art Gedenkminute gemeint, einen stillen Moment für die Erinnerung. Für die Kameras drehten sich die Schirme dann mal Richtung Atombomben-Dom, nach fünf Minuten Richtung Brücke, und zum Schluss Richtung Zaun.


Der Künstler mit Schirm

Gegen 21 Uhr, es war inzwischen ordentlich frisch geworden, wurden dann die Schirme wieder eingeklappt. Mit knapp 30 Freiwilligen gingen wir dann zu einem nahen Café und entfernten die Dildos Lichtmodule wieder von den Schirmen. Im Mai werden sie wieder in Hiroshima aufgespannt, beim Blumenfestival.

Ich war echt beeindruckt davon, wie viele Helfer sich gefunden hatten. In Hiroshima gibt es einen wirklichen Sinn für Gemeinschaft: Ladenbesitzer, Journalisten, Senioren, Studenten und Mütter – alle kamen zusammen um bei dem Kunstprojekt zu helfen. Aus Tokyo kenne ich so eine Art übergreifende Community nicht – zumindest hab ich es nie so erlebt.

Meine Bekannte stellte mich natürlich auch wieder allen vor. Der Journalist der Chugoku Shimbun war auch mit dabei. Er interviewte mich damals für meine Ausstellung in einem viel zu schnellen Japanisch. Das Interview war auch etwas, dass indirekt durch meine Bekannte zustande kam. Ihn erkannte ich allerdings ebenfalls nicht wieder. Gesichter, von denen ich kein Foto gemacht habe, kann ich mir echt schlecht merken.

Nachdem gegen 22 Uhr alles aufgeräumt war, wollte ich noch etwas essen gehen. Seit einem ungesalzenen Hühnchen aus dem Konbini gegen drei Uhr gab es nichts mehr.
Meine Bekannte bot mir an, mich zu einem Restaurant zu bringen und anschließend nach hause zu fahren. “Weil du Student bist, bezahle ich” sagte sie. Sie wollte in ein italienisches Restaurant. Natürlich arbeitete dort auch ein Freund von ihr.

Der “gruselig aussehende alte Mann” hatte ihr Auto schon vor das Parkhaus gestellt als wir uns auf den Rückweg machten. Auf dem Fahrersitz lag ein Berg Süßigkeiten. Ein Geschenk vom alten Mann. Laut meiner Bekannte war das für mich. Meine Hände konnten kaum die ganze Schokolade, Bonbons aus grünen Tee und Pralinen halten. Einiges rollten unter den Sitz.

Kurz vor 24 Uhr setzte sie mich dann vorm Wohnheim ab. Ich bedankte mich, dass sie extra schnell fuhr. Nach Mitternacht werden die Türen im Wohnheim nämlich abgeschlossen. Sie rief mir noch hinterher: “dann beeil dich, Cinderella!”

In Deutschland wird die Katastrophe vom 11. März 2011 nur auf Fukushima reduziert. Die knapp 18.000 Tote von Erdbeben und Tsunami – oder wie jetzt auch bekannt wurde: die ca. 3.000 Menschen die sich nach der Katastrophe das Leben nahmen oder zu Tode getrunken haben – diese Menschen werden häufig vergessen in Deutschland.

Allerdings war Fukushima bei dieser bunten Gedenkfeier in Hiroshima auch absolut kein Thema.

Japan und Geschichte – das ist oft so einseitig. Auch in einer so offenen Stadt wie Hiroshima.
Aber egal ob nun schlechte Geschichte, gute Geschichte, bunt oder ernst:

Das wichtigste ist nicht zu vergessen.

Hinter den Bergen


Das ist: Die Aussicht von dem Studentenwohnheim der Hiroshima City University. Das Wohnheim ist, wie die Uni, mitten in der Bergen. Der nächste Laden ist 30 Minuten entfernt. Der Bus kommt zu Schulzeiten alle 20 Minuten, am Wochenende einmal die Stunde. Wenn überhaupt.

Das Leben ist definitiv ein anderes, als in Tokyo.

Im Wohnheim gibt es nicht: Internet. Saubere Klos. Teure Mieten. Küchenutensilien. Bettzeug. Mülleimer im Zimmer.
Um 22 Uhr wird vorne zu gemacht. Also länger mal in der Stadt unterwegs sein, ist nicht drin. Es sei denn man klettert durch sein Fenster wieder rein – so wie ich vorgestern abend. Nachdem ich 40 Minuten lang den Berg hochlief, weil der Bus nicht mehr fuhr.

Und trotzdem… bin ich tatsächlich sehr zufrieden gerade. Mit allem. Ich fühl mich auf jeden Fall freier. Der Nachteil, nicht alle 50 Meter einen Conbini zu haben, der einen zum Konsum lockt, befreit einen auch so ein bisschen davon, ständig zu konsumieren. Ich bin jetzt in den Bergen und hier gibt es rundherum nichts. Das einzige, was man machen kann, ist studieren.

Deswegen haben sie vermutlich die Universität auf den Berg gesetzt.

Was sich bei dem Visums-Prozedere schon andeutete, setzt sich nun fort. Die Uni ist noch nicht ganz auf die 20 Austauschstudenten eingestellt. Ich habe immer noch kein Studienfach, in der nächsten Woche soll es dazu dann Näheres geben. Fotografie gibt es nicht, aber das wusste ich schon vorher. Ich tendiere zu “Skulptur”. Mal was völlig anderes. Und es ist auch sehr physisch, da muss man nicht so viel Japanisch brabbeln.

Mein Japanisch ist so gut, wie es noch nie war. Ich kann mich mittlerweile ganz gut erklären und Konversationen halten. Es ist zwar nie ganz alles korrekt, und manchmal fehlt mir das richtige Wort oder Satzbau. Aber dafür, dass ich Japanisch eher auf den Straßen von Tokyo gelernt habe, statt in einem formalen Unterricht, schlage ich mich ganz wacker.

Für uns gibt es auch Japanisch-Kurse, einige habe ich bisher schon besucht. Es gibt nur Japanisch I, II und IV. In I und II üben wir, konnichiwa zu sagen, und bis zehn zu zählen. In Japanisch IV legte uns die Lehrerin einen Text mit knapp 300 verschiedenen Schriftzeichen hin und meinte “Vorlesen!”. Dass ich knapp die Hälfte der Zeichen konnte, half nicht viel.
Die koreanischen und chinesischen Austauschstudenten, im klaren Heimvorteil, konnten die Zeichen einfach vorlesen. Wir Europäer waren sprachlos.

Scheinbar gibt es nur die zwei Art Kurse. Sackschwer oder zu einfach. Es scheint keinen mittleren Kurs zu geben, für Leute wie mich.
Na schauen wir mal. Das meiste lern ich sicher durch Gespräche und den Alltag. Ich versuche jeden Abend all die Vokabeln, die ich tagsüber nicht wusste, aufzuschreiben und zu lernen. Den Tipp hab ich von einer koreanischen Kommilitonin aus Hannover. Das funktioniert auch offline ganz gut, dank Wörterbuch. Und manchmal kann ich auch das ungeschützte WLAN von dem Bewohner über mir klauen, um was nachzuschlagen.

So ganz angekommen bin ich noch nicht. Das Wohnheim erzeugt nämlich nicht wirklich ein Gefühl von Zuhause. Aber: kein Zuhause = keine Verpflichtung. Ich lass mich treiben. Mal hier in dem einen Uni-Gebäude, und schon kommt ein Gesprächspartner vorbei. Mal im anderen Gebäude, und plötzlich erscheint ein Gesicht aus Hannover. Im Haus der Studentclubs spielt manchmal ein Orchester. Überall Leben, Kreativität. Das alles bei über 20° und Blick ins Tal.

Irgendwann wird mich das sicher alles langweilen. Deswegen arbeite ich schon an der nächsten Geschichte. Ein Film soll es werden.

Ich will noch viele weitere Geschichten machen, weitere Filme. Und obwohl ich gerade entspannt bin: die Zeit wird knapp. In nur fünf Monaten bin ich wieder aus Hiroshima raus. Dann noch ein Monat Tokyo hintendran und dann geht es wieder weiter. Entweder Deutschland oder USA.

Bis dahin: Berge.

Rasch Aua


Ich bin müde und alles tut weh. Ich bin in Japan gelandet.

Eigentlich wollte ich ja schon im August hier sein. Die Uni in Hiroshima verzögerte aber die Sache mit dem Visum, sodass ich dann doch länger in Berlin bleiben musste. Kurzfristig kamen dann noch zwei Jobs rein und es sah so aus, als käme ich gar nicht mehr weg.
Letzte Woche Dienstag kam dann das Dokument fürs Visum. Endlich. Ich bin dann sofort zur Japanischen Botschaft, Studentenvisum beantragen. “Alles klar, kommen Sie dann einfach Montag vorbei” hieß es. Etwas entrüstet machte ich der netten Dame am Schalter klar, dass ich nun schon seit Monaten warte. Aber das brauchte ich ihr eigentlich nicht zu erklären. Sie wusste es bereits. In den Wochen zuvor war ich bereits zwei mal in der Botschaft und versuchte eine Möglichkeit zu finden, irgendwie anders an mein Visum zu kommen. Einen Flug hatte ich in der ganzen Zeit zuvor noch nicht gebucht. Wer weiss denn, wann es nun wirklich losgehen würde.
Die Dame verstand also und meinte “Okay, kommen Sie morgen um Punkt 16 Uhr vorbei. Zu 99% hab ich dann ihr Visum!”. Geht doch. Man muss nur quengeln.

Am nächsten Tag, pünktlich um 15.52 Uhr betrat ich die Botschaft. Eine andere Dame war nun am Schalter. Schon vom anderen Ende der Botschaft lächelte sie mich über den Raum hinweg an. “Herr Schumann! Ich hab ihr Visum”. Die gut aussehende Dame erkannte mich von meinem Passbild wieder. Das war allerdings alles andere als gut aussehend.
Sie überreichte mir die Dokumente und wünschte mir eine schöne Zeit. Ein Jahr Studentenvisum mit Arbeitsberechtigung in Japan. Schöne Zeit.

Noch in der Botschaft buchte ich mit dem Handy den Flug für den folgenden Tag. Ich hatte zwar noch nicht gepackt, wollte aber so schnell wie möglich nach Japan. Die Temperaturen waren in Berlin gerade unter 10°C gefallen. Zeit abzuhauen.

Je Profi, desto schwerer

In den Wochen zuvor bin ich durch Jobs und andere fällige Zahlungen zu Geld gekommen. Das meiste habe ich gleich in Ausrüstung investiert. Mikrofone, Objektive, Licht. Die 14 Kilo Technik musste ich nun in eine Tasche zwängen und nach Asien wuchten. Zusätzlich zu 13 Kilo an Klamotten, die für acht Monate reichen müssen. Ich hab mir zwar extra Taschen gekauft, die durch ein cleveres Leitsystem das Gewicht angenehm verteilen. Aber das Gewicht verschwindet ja nicht. So schmerzt statt nur dem Rücken, der die ganze Last trägt, alles – denn das Gewicht wird über den gesamten Körper verteilt.
Der Flieger ging wieder über Moskau mit Aeroflot. Nach wie vor die günstigste und schnellste Verbindung von Berlin. Deswegen nahm ich sie nun auch schon zum sechsten Mal.

Am Freitag landete ich in 28°C. Vom Flughafen Narita dann direkt mit dem Bus nach Yokohama, wo ich erst einmal bei einem Freund unterkommen konnte. Inzwischen wohne ich wieder in meiner alten WG in Nakano. Eine Woche Tokyo, dann geht es schon wieder weiter nach Hiroshima, bis März.

Ich bin dauermüde vom Jetlag. Mein Körper schmerzt, von den 27 Kilo, die ich mit mir rumtrage.
Aber tatsächlich: ich könnte nicht zufriedener sein.

Es ist das vierte Mal in Japan. Auch wenn ich natürlich beruflich sehr viel mit dem Land zu tun habe: mit jedem Flug reisen natürlich auch die Emotionen mit. Es ist, natürlich, eine zweite Heimat.
Denn wie definiert sich Heimat? Es ist der Ort, an dem man aufgewachsen ist. Japan, insbesondere Tokyo, ist der Ort, an dem ich gewachsen bin. Als junger Erwachsener und selbstverständlich auch als Fotograf und Journalist.

Reis und Reisen
Kontinente wechseln wird einfacher, je öfter man es macht. Auch wenn auch dieses Jahr wieder weniger Freunde in Japan noch auf mich warten.

Ich plane bis März/April nächsten Jahres zu bleiben, davon sechs Monate in Hiroshima – mit vielen Reisen durchs Land.
Zum ersten Mal bin ich in Japan und muss mir keine Sorgen um Geld machen. Ich habe die letzten Monate ganz gut verdient und erhalte ein Stipendium der Uni. Das entspannt. Und befreit. Ich kann Geschichten angehen, die ich mir vorher schlichtweg nicht leisten konnte. Ich kann mir auch mehr Zeit nehmen.

Etwas, was ich an meiner Zeit in Japan immer mochte, war der Wagemut, oder eine gewisse Naivität. Mir war stets egal, ob ich qualifiziert genug war, um eine Geschichte zu machen. Ich machte einfach, und wuchs daran. Oft fehlte mir das Geld, für Reisen oder eine Unterkunft. Aber immer fand ich etwas. Denn es musste einfach klappen.
Ich buchte den Flug für den folgenden Tag, ohne eine Unterkunft in Tokyo zu haben. Keine Stunde später hatte ich eine gefunden. Ich wollte anschließend unbedingt wieder in meiner alten WG wohnen. Am Samstag schrieb ich dem Vermieter, unwissend ob überhaupt ein Zimmer frei ist. Montag zog ich ein.

Mein Bruder sagte mir mal etwas über seine Arbeitsweise: Man muss das Glück provozieren. Auch wenn ich eine solide Recherche und Vorarbeit für sehr sinnvoll halte – es stimmt schon. Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, nichts verlieren kann – dann kann man nur gewinnen. Man muss es nur provozieren.


Japanreise 2012

Letztes Jahr hatte ich das etwas verloren. Beziehungsweise ich hatte es verlernt. Nach drei Semestern Uni war ich vorsichtiger geworden. Kursen über Steuern, Versicherungen, Rechnungen und anderen Kosten, die einen so befallen, je älter und geschäftiger man wird. Meine Ausrüstung wiegt nicht nur schwer auf der Schulter, sondern auch auf dem Konto. Der Fall auf die eigene Nase wird höher, je älter man ist. Naiv sein kostet. Fehler sind nicht so einfach auszugleichen, als noch mit Anfang 20.

Aber um ehrlich zu sein: Was solls.
Ich habe stets mehr gewonnen, als verloren. Ich leiste mir jetzt wieder etwas Naivität. Ich mach einfach. Die Konsequenzen warten in Deutschland. Ich bin jetzt erstmal ne Weile hier und mach einfach. Was mir Spaß macht.

Es wird das letzte Mal sein, dass ich eine längere Zeit in Japan verbringe. Also los.

Noch einmal mit Gefühl.