Live and Sea: Protest

Tag des Widerstands.

(Hintergrund in Teil 1)

Noch acht Stunden

Nach 9 Uhr wachte ich auf. Eigentlich wollte ich schon früher wach sein, denn um 9 Uhr begann bereits die Lagebesprechung. Heute sollte die Fischerei-Gewerkschaft der Präfektur Yamaguchi auf die Insel kommen. Nur zum Reden, alle Entscheidungen sind schon gefallen. Die Inselbewohner wollen aber nicht, dass sie die Insel betreten. Also soll der Steg blockiert werden. Das ist der Plan für den heutigen Tag.
Es gibt drei Fähren am Tag nach Iwaishima. Um 7 Uhr, um 10 und um 17 Uhr. Es galt als unwahrscheinlich, dass es die erste Fähre sein würde. Also nun eben um 10 Uhr.

Ich schluckte schnell den Kuchen runter, den ich tags zuvor gekauft hatte. Ich hatte viel Proviant dabei. Denn ich wusste, auf der Insel kann man nicht so schnell und gut einkaufen, wie auf dem Festland.
Kamera verstaut und in schnellen Schritten zum Steg.

Schon bevor ich das Meer sehen konnte, erwartete ich eigentlich die Schreie von zahlreichen Senioren. Doch es war still auf der Insel. Nur Möwen waren zu hören.
Im Gemeindehaus war die halbe Insel versammelt und trat nervös auf und ab. Mit der ersten Fähre kamen noch weitere Aktivisten vom Festland oder von den Inseln aus der Umgebung. Viele schauten nervös aufs Meer und suchten die Fähre.

Im Nebenzimmer saß Tohjo am Rechner. Er bekam gerade einen Anruf. Sein Kontakt auf dem Festland hat ihm gesagt, dass die Gewerkschaftler nicht in der Fähre um 10 Uhr sind. Also dann die um 17 Uhr. Bis dahin: warten.


Shimizu, Anführer der Proteste

Noch sechs Stunden

Der Gemeindesaal leerte sich. Es blieben nur die von außerhalb, die kein Haus auf der Insel hatten, in dem sie warten konnten. Ganz irritiert schaute sie den blonden Ausländer an. Neugierig stellten sie mir Fragen. Da war die 5 Jahre alte Yuiko mit ihrer Mutter. Sie stammen aus Ibaraki, eine Präfektur südlich von Fukushima. Als das Kraftwerk explodierte, flohen sie nach Yamaguchi. Das war vor drei Jahren. Die Vertreibung aus ihrer Heimat hat bis heute ein Echo. Deswegen sind sie nun hier. Die kleine Yuiko hat mit Wachsmalstiften kleine Poster gebastelt: “(ich bin) Gegen Atomkraftwerk”. Darunter ein kleiner, toter Fisch.

“Ist das ein Englisch-Mensch?” fragte sie ihre Mutter, als ich mir ihr Schild ansah. Im Kindergarten hatte sie schon ein paar Englische Worte gelernt. “Baby”, “Head”, “Shoulder”, “Knees” und… “das wars!” sagte sie vergnügt.

Die Damen von der Insel brachten das Essen, während die Männer schon die Tische bereit stellten. Mittagszeit, um 11 Uhr. Ich war noch voll mit Kuchen, aber Frau Hashimoto bestand darauf, dass ich noch Suppe und Onigiri esse. Dazu gabs Seegras aus dem Meer.

Es sollten noch knapp sechs Stunden sein, bis die Fischer kommen. Die Stimmung war entspannt.


Oben im Hintergrund ist ein Kupferstich vom vierjährlichen Festival der Insel. Seitdem die Proteste andauern wurde es nicht mehr gefeiert. Scheinbar wurde es seit Fukushima einmal gefeiert. Es gibt aber noch ein anderes Inselfest, welches seit Beginn der Proteste nicht mehr veranstaltet wird.

In einer anderen Ecke des Raums wurden die Protestflaggen rausgeholt. Baumwolle, Seide, bunt oder nur mit Edding auf ein Bettlaken geschrieben: In den Jahrzehnten wurde aus ganz Japan Botschaften zur Insel geschickt. Wie schon unzählige Male zuvor brachten die alten Herren die Flaggen an Bambus-Stangen an. Ohne große Emotion wurde dieser Arbeitsschritt erledigt. Ein formaler Akt vom Kampf.

Noch vier Stunden

Die fertigen Fahnen stapelten sich im Treppenhaus und vor dem Gebäude. Die Stimmung war immer noch gut. Frau Hashimoto hielt mit ihrer Laune und Fürsorge alles zusammen.

Zusammen mit den anderen Damen stand sie zuvor in der Küche, um das Essen für alle Helfer zu machen. So wie sie am Abend schon zuvor für uns kochte und nicht eher Ruhe gab, eh ich komplett voll war.

Von hier an war viel Warten angesagt. Einige schliefen auf den Reismatten vom Gemeindesaal. Ich zog etwas über die Insel, kam aber ab und an vorbei um mir die neueste Entwicklung anzuschauen. Einmal stand Frau Hashimoto schon mit der Tasse Kaffee in der Hand in der Tür vom Gemeindehaus und wartete auf mich. Neben mir auch Tohjo, der schon etwas länger wach war als ich. Ich wollte ihm die Tasse geben, doch Frau Hashimoto nahm sie weg. “Nene, die Tasse ist für den merkwürdigen Ausländer!” sagte sie und lachte laut. Sie erzählte dann wieder die Geschichte vom letzten Abend, wo der “merkwürdige Ausländer” ihr Haus mit einer Mensa verwechselte. Und die Gruppe lachte. Einschließlich mir. Die Gute Laune vertrieb die Nervosität.

Ich nahm die Tasse und lief zum Steg. Keiner war hier. Es war ruhig. Ich trank den schwarzen Kaffee in der Mittagssonne und lauschte dem Meeresrauschen.

Noch zwei Stunden

Mit allen meinen Sachen stand ich am Steg. Denn ich hatte am nächsten Tag einen Termin und musste diese letzte Fähre nehmen. Viel Zeit für den Protest blieb mir an dem Tag nicht. Ich sprach mit Shimizu am Abend zuvor darüber. Er meinte: “Auch wenn du nur zehn Minuten lang fotografieren kannst – das kann schon einen Unterschied machen.”

Ich war nun nicht mehr der einzige am Steg. Frau Hashimoto brachte einige der Protestflaggen an, zusammen mit den anderen Damen. Die Stimmung war nun so bewölkt wie das Wetter. Alle waren angespannt.

Noch eine Stunde

Um 16 Uhr kam dann das Fernsehen. Im eigenem Boot. Tatsächlich waren es überraschend viele Medien. NHK, Yamaguchi TV und noch ein paar andere Sender, die ich nicht kannte. Dazu gab es einige Fotografen und Blogger, die mit einem iPhone auf dem Stativ filmten. Darunter auch ein junger Fotojournalist, der zwei Sticker auf seiner schwarzen Weste hatte: “Atomkraft? Nein Danke” und “Fight Racism”. Er erinnerte mich an einen Kommilitonen, der von vielen als “extrem” beschrieben wird und der mit seinen Bildern die Welt retten will.

Als ich ihn so sah, musste ich kurz überlegen. Ich fotografiere keine Demos. Ich will mit meinen Bildern nicht die Welt retten. Allein den Anspruch zu haben finde ich schon merkwürdig. Aber diesen Typ Fotografen gibt es eben. Ich studieren mit ihnen. Und nun bin ich für diesen Tag wohl einer von ihnen.


Links Hashimoto, nervös und ohne Lächeln. Rechts Fotografin, die seit zehn Jahren die Proteste auf der Insel begleitet.

Wir alle starrten nur aufs Meer. Es gab nicht anderes zu tun, als uns von unserer Nervosität abzulenken.
Ich versuchte mit Frau Hashimoto zu reden. Ich hoffte, sie konnte etwas sagen, um allgemein die Stimmung zu heben. Doch sie blieb still. Die Fotografin rechts von ihr war entspannter, aber auch etwas wehmütig. “Seit zehn Jahren fotografiere ich die Proteste auf der Insel.” sagte sie. “Jedes Jahr sind es weniger, die noch demonstrieren.” Sie sind entweder verstorben, oder zu krank zum Kämpfen.
Mir fiel die Überlebende der Atombombe ein, die ich vor vier Jahren hier für mein Buch interviewte. Ich fragte Frau Hashimoto wie es ihr denn geht. Sie blieb ernst und ruhig. Im letzten Jahr ist die Überlebende der Bombe verstorben, sagte sie. Krebs.
Und wieder einer weniger.

Die Fronten zeichneten sich bereits ab. Am Eingang zum Steg standen die Fischer, die das Geld haben wollten. Sie alle trugen schwarz und guckten grimmig. Hinter ihnen standen die Senioren mit ihren Fahnen und Schildern. Und dahinter dann die Medien, die im Chaos fast so zahlreich schienen wie die Aktivisten.

Abseits vom Chaos stand die kleine Yuiko. Mit dem Schild in der Hand brüllte sie voller Energie über die ganze Insel und Richtung Meer. “Genpatsu Hantai!”

Ich konnte nun nicht mehr weg. Weil ich unbedingt die Fähre nehmen musste, stand ich ganz vorne. Anders wäre ich durch die Masse nicht mehr gekommen.

Noch 30 Minuten

Kurz vor der Ankunft der Fähre kam die Polizei. Es waren fünf Beamte in gepolsterten Jacken und der leitende Polizist im schwarzen Mantel. Für sie war das alles nix neues. Es ist nicht ihr erster Protest auf Iwaishima. Ihre Aufgabe war es, für Ordnung zu sorgen, zwischen den Senioren, Fischern und Gewerkschaftlern. Damit es nicht gewaltsam wird.

Tohjo lief die ganze Zeit durch die Massen, Videokamera in der Hand. Irgendwas muss der Polizist ihm gesagt haben, dass er vielleicht irgendwo nicht filmen darf oder so. Tohjo regte sich auf jeden Fall etwas auf und verlangte die Nummer vom Beamten zu sehen. Der lächelte nur und zeigte ihm seine Marke. Shimizu kam auch noch hinzu und versuchte Tohjo zu beruhigen. Die Nerven lagen bei allen blank, eine kleine Aktion reicht aus zur Explosion. Alle waren nervös. So viel verschiedene Stimmungen, Gedanken und Ziele prallten an diesem Tag knallhart aufeinander. Ich konnte es in der Luft schmecken und selbst mir wurde flau im Magen.

Durch die Masse drängte sich eine alte, breite Dame. Ihr Gesicht kannte ich, ich habe es auf Tohjos Fotos gesehen. Sie war eine von zwei Personen, die vom Stromkonzern verklagt wurden. Genau wie heute hier auf dem Steg, legte sie sich längs auf der Baustelle vom Atomkraftwerk vor die Fahrzeuge. Die konnten nix machen. Für jeden ausgefallen Arbeitstag stellte die Stromfirma der Dame nun einen Betrag in Rechnung. Die Kosten gehen in die Milliarden. Aber sie bleibt entspannt. “Die Summe ist so hoch, dass kann kein Mensch in seinem Leben bezahlen! Und in den wenigen Jahren, die mir bleiben, erst recht nicht!”.
Die Summe diente auch mehr als Abschreckung, für die anderen Senioren. Forderungen gab es bis jetzt keine. Was soll die alte Dame auch zahlen.

Der Polizist versuchte ihr noch zu erklären, dass sie auch den normalen Fahrgästen im Weg sitzt, aber irgendwann gab er wegen ihrer Sturheit auch auf. “Ich bin eine alte Dame, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß. Ich muss sitzen!”

Die Fischer rauchten noch ihre letzte Zigarette. Der Stummel wurde ins Meer geworfen. Fischer, die ein AKW in ihrem Wasser befürworten, haben es wohl nicht so mit der Umwelt.

Bei Demos oder allgemein Auseinandersetzungen in Japan habe ich das schon oft beobachtet: das “im Weg stehen”. Die Fischer stellten sich vor die Demonstranten und taten so, als würde es sie nicht jucken, dass von hinten ein paar Dutzend Senioren drängen. Aber so wird man nicht gewaltsam oder brüllt zurück. Man steht nur im Weg und versucht die anderen zu behindern.

Gegenüber vom Steg versammelten sich die anderen Fischer und Inselbewohner, die entweder für das AKW waren oder sich enthielten. Yamato senior war an dem Tag nirgends zu sehen. Sein Sohn stand etwas abseits und sah sich alles an.

Es fällt mir bis heute schwer, die Position vom Sohn einzuschätzen. Er spricht sich nie offen gegen seinen Vater aus. Denkt aber immer an die Insel und hat gute Einwände. Sicher für ihn auch nicht einfach, eine Position zu beziehen. Er ist einer von den wenigen jungen Leuten auf der Insel. Die Zukunft lastet auf ihm.

Chaos

Dann kam das Boot. “Erst die Fahrgäste von Bord lassen! Dann das Gepäck!” ermahnte der leitende Beamte mit dem Megaphon. Die Fähre versorgt die Insel auch mit Post und Lebensmitteln. Erst wenn diese und die Fahrgäste von Bord sind, dann dürfen die Gewerkschaftler raus. Alles für nen sauberen Ablauf.

Tohjo hüpfte an mir vorbei ins Boot. Ich hatte vorher mit ihm abgemacht, dass wir zusammen die Fähre betreten, um drinnen Bilder zu machen. “Gehts jetzt los?” fragte ich ihn. Er nickte nur still. Keine Zeit für Kommandos.
Ich zeigte dem Mann mit dem Megaphon mein Ticket. Er schaute kurz auf das Ticket, dann auf meine Kamera, wieder zurück aufs Ticket. Er setzte das Megaphon an. “Achtung, es kommt ein Fahrgast durch, bitte den weg frei machen!”. An der dicken Dame auf der Treppe vorbei – die nur nach vorne starrte, auf den Ausgang der Fähre – huschte ich ins Boot. Shimizu und Tohjo waren schon drinnen. Auch diverse Kamera-Teams.

Shimizu sprach ganz ruhig mit den Vertretern der Gewerkschaft. “Okay Leute, so schauts aus. Wir wissen, ihr wollt nur reden, aber die Leute von Insel wollen nicht, dass ihr kommt. Bitte versteht das und bleibt in der Fähre.” Die Gewerkschaftler blieben ruhig, antworteten nicht. Von hinten schubsten die Fischer der Insel, die das Geld haben wollten. Shimizu landete auf dem Boden. Überall nur Köpfe, Rücken, Windjacken.
Mit Shimizu am Boden machten sich die Gewerkschaftler zum Ausgang. Nun kamen auch die anderen Aktivisten, die mit an Bord waren, zur Gruppe hinzu. Die Familie aus Ibaraki mit der kleinen Yuiko voran.

Sie schrie “Genpatsu Hantai”, “Genpatsu Hantai”. Ihre Mutter schrie mit. Die Insel schrie mit. Alle drückten, schubsten, schrien durch das Boot.
Der Kapitän, der keinen Bock auf diese ganze Szene hatte, stürmte herunter. Er stammte nicht von der Insel und hat hier jedes Mal das gleiche Problem. Leute kommen und wollen reden, und die Senioren drücken zurück. Er hat einen Zeitplan einzuhalten und muss ablegen. Kann er aber nicht, wenn der halbe Hafen mit Menschen blockiert wird. Die Mutter aus Ibaraki versuchte ihn aufzuhalten “Wir wollen kein Atomkraftwerk!” schrie sie. “Kein Fukushima in der Seto-See!” Der Kapitän brüllte zurück. “Halts Maul!” Er stellte sich in den Ausgang, damit kein Fahrgast mehr zurück kann.

Abseits von allen stand die kleine Yuiko, die mit der ganzen Situation etwas überfordert war.

Und schlussendlich schafften es die Gewerkschaftlern mit ihren Aktenkoffern von Bord. Die Schlacht schien verloren.

Das in den folgenden Minuten keiner ins Wasser gefallen ist, überrascht mich bis heute. Der Kapitän hat den Ausgang inzwischen frei gemacht und ich hielt die Kamera raus.

Wer für was drückt, schubst, kämpft – wer nur Journalist ist oder für die Fähre arbeitet. Man konnte es nicht mehr erkennen. Es gab nur einen Klumpen voll mit schreienden Menschen, der sich keinen Zentimeter weit bewegte.

Die Mutter aus Ibaraki nahm das Plakat ihrer Tochter und rollte es zu einem Megaphon zusammen. Sie schrie nun “Die Fähre legt bald ab! Wir bitten alle Fahrgäste an Bord zu kommen!” Leicht zynisch sollte es die Leute von der Gewerkschaft wieder zurück ins Boot holen.

Ihre Tochter saß vorne im Boot und wusste nicht so recht, was passiert. Ich wusste es auch nicht.


Im Hintergrund, Fahrgäste schauen aus dem Fenster auf den Steg, wo das Chaos stattfand

Nach einer gefühlten Ewigkeit – es waren maximal 15 Minuten – haben die Gewerschaftler eingesehen, dass es hier und heute keinen Sinn macht. Sie gaben nach und kehrten um. Applaus auf dem Steg. Die Mutter aus Ibaraki bedankte sich. Das halbe Boot weinte über den Sieg in der Schlacht.

Die Gewerkschaftler setzten sich, und sahen doch entspannt aus. Sie hatten es bestimmt erwartet, dass es so ausgeht. Keiner war überrascht.

Mit Tränen in den Augen winkte die Mutter aus Ibaraki den Senioren von der Insel zu. Ihre Tochter winkte mit.

Die anderen Fahrgäste winkten auch.
Die Gewerkschaftler winkten nicht.

Die Fähre hatte zwei Teile, in der Mitte saß der Kapitän, der ordentlich gefrustet war. Hinten waren die Gewerkschaftler, Journalisten und ein, zwei Unbeteilligte.

Vorne saßen die Aktivisten. Um ihren Kopf war ein Band gebunden, mit dem Schlachtruf. Wer nicht mehr weinte, rieb sich die Tränen aus dem Gesicht. Es war nun still. Keiner schrie mehr. Und vor der Fähre lag die Seto-See, mit seinen unzähligen Inseln, von denen keine heute so laut war, wie Iwaishima.

Epilog

Es war intensiv.
So viele Stimmen, so viele Emotionen in der Luft. Jeder glaubte an seine Sache und kämpfte mit voller Energie dafür. Selbst die Senioren der Insel brüllten mit voller Energie gegen die Gewerkschaft an.
Es war für mich wirklich schwierig, nicht neutral zu sein.

Objektiv betrachtet war die ganze Aktion genau so, wie es der Anwalt sagte: kindisch.
Die Gewerkschaftler davon abzuhalten, die Insel zu betreten, verhindert nicht das Atomkraftwerk. Momentan ist überhaupt nichts geplant. Und die Entscheidung über das Geld, worum es ja nun eigentlich ging, ist schon längst gefallen.

Trotzdem kämpften die Bewohner der Insel so, als ginge es genau um das. Um ihre Insel. Ihre See. Als ob der Kampf jetzt über die Zukunft entscheidet.

Aber es ist noch viel mehr als das. Die Insel hat absolut keine Macht. Die Regierung ist für den Bau, der einzige Stromkonzern in der Region erst recht. Die Insel ist alt und stirbt langsam. Die einzige “Macht” der Insel muss von außen kommen. Die Insel muss an den Rest von Japan, den Rest der Welt appelieren. Sonst stehen sie ziemlich alleine da.

Und genau so sollte man nun diese Aktion verstehen. Als Statement. Es ist ein Zeichen. Wir kämpfen noch! Wir sind noch nicht tot! Wir leisten immer noch Widerstand!

Dafür haben sie gekämpft. Nicht um ein paar Gewerkschaftler oder ein paar Fischer. Es zählt die große Idee dahinter. “Wir geben nicht auf!”

Anhang

Am 13. März gab es ein heftiges Erdbeben in Hiroshima, Stärke 5. Das Epizentrum lag in der Seto-See, nahe dem geplanten AKW.

Am 26. Februar 2014 kündigte Premierminister Abe an, wieder auf Atomkraft zu setzen.

Das Video von Tohjo von dem Tag. Ich hüpf da auch zwei mal durchs Bild.

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=wnct_-JZ_uU]

Live and Sea

In der Nacht, eine Email. Eine Professorin meiner Uni bittet mich nach Iwaishima.”Fritz, deine Anwesenheit und deine Kamera kann etwas bewirken!”

Zusammen mit ihr machte ich mich auf den Weg zur Insel vor Hiroshima.

Die Professorin kannte ich vom Namen, aber getroffen hatte ich sie bisher noch nicht. Ich bat sie mich bei meinen Projekten in Hiroshima zu unterstützen, doch sie winkte immer ab. Sie war zu beschäftigt. Zudem hatte sie gerade die ganze Arbeit für meinen Vorgänger erledigt, den letzten Fotojournalismus-Studenten aus Hannover. Doch jetzt war es eilig. Gegen 3 Uhr früh kam ihre Email.

Iwaishima – Insel unweit von Hiroshima in der Yamaguchi-Präfektur, gelegen in der wunderschönen Seto-Inlandssee. Nur noch 360 Menschen leben hier, 80% von ihnen mehr als 60 Jahre alt. Jedes dritte Haus steht leer, weil es keine lebenden Verwandten mehr gibt, oder Leute, die auf der Insel wohnen wollen. Die Insel stirbt.

Aber: Die Insel kämpft. Seit den 80er Jahren wollte der Stromkonzern Chugoku Denryoku, einziger Stromanbieter in Westjapan, ein Atomkraftwerk vor der Insel bauen. Auf der Rückseite der Halbinsel Kaminoseki sollten die Kühltürme versteckt werden, direkt an der Küste vom Meer. Die einzigen, die das Kraftwerk gesehen hätte, wären die Bewohner von Iwaishima gewesen. Sie waren auch die einzigen, die das Kraftwerk ablehnten.

Den Senioren von Iwaishima ist es zu verdanken, dass bis heute nicht einmal das Fundament vom Kraftwerk steht. Schon lange vor Fukushima protestierten sie gegen den Bau. Und nach Fukushima sah es so aus, als würde nichts mehr passieren. Die Baupläne wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die Alten hatten gewonnen.

Am Montag Morgen um 7 Uhr stand ich vor der Uni. Die Professorin wollte mich in ihrem Auto abholen und zur Fähre bringen. Gemeinsam wollten wir zur Insel aufbrechen und mit dem Inselrat sprechen. Auf dem Weg sammelten wir noch einen deutschen Experten für Strahlenschutz ein, der gerade für ein Seminar in Hiroshima war. Er war Ost-Berliner und saß früher im Senat. Die Professorin erklärte uns die aktuelle Lage während ich mit dem ehemaligen Abgeordneten aus Berlin im gelben Toyota saß.

Es geht um Geld. So genanntes Garantie-Geld wurde von der Stromfirma allen Fischer der Region angeboten, für den Fall, dass was passiert. Es ist aber mehr oder weniger Schweigegeld, um das Kraftwerk zu akzeptieren. Denn sollte wirklich was passieren, ist die gesamte See verseucht und alle Fischer arbeitslos.
Alle Fischer in der Region nahmen das Geld an. Alle – bis auf Iwaishima.

Doch jetzt, nach Fukushima, gehen die Fischer auf der Insel nicht mehr davon aus, dass das Kraftwerk jemals gebaut werden wird. Warum also nicht jetzt das Geld nehmen?
Es gab eine öffentliche Abstimmung auf der Insel im letzten Jahr, bei der sich die Mehrheit der Fischer gegen das Geld ausgesprochen haben. In den nächsten Tagen riefen sie dann aber nach und nach heimlich bei der Stromfirma an. Sie haben ihre Meinung geändert oder waren von der Abstimmung verwirrt. Sie sind aber voll dafür, das Geld zu nehmen. Ergebnis: Die Mehrheit entschied sich für das Geld, die Stromfirma kann nun auszahlen.

Auf der Insel gibt es nun zwei Lager und die Graben sind tief. Auch wenn die Verteilung nicht gleichmäßig ist: Nur knap 35-50 Menschen wollen das Geld. Alle anderen lehnen es ab.

Das ganze wird nun aber noch komplizierter:
Seit mehr als zehn Jahren sitzt das Geld für die Fischer auf Konten der Regierung. Als nämlich in den 90er Jahren die Stromfirma die Fischer von Iwaishima auszahlen wollten, überwies die Insel das Geld gleich wieder zurück. Es landete dann auf kommunalen Konten, die das Geld nicht anrühren dürfen.
In den Jahrzehnten haben sich aber Zinsen und Steuern auf die Summe angesammelt, von denen keiner so recht weiß, wer sie nun bezahlen muss. Die lokale Regierung, die für den Bau vom Kraftwerk ist, will natürlich das Geld ausbezahlt sehen, und sich nicht mehr mit dem Problem vom “fremden Geld” befassen müssen. Zudem gibt es anscheinend auch eine Frist, nach der das Geld verfällt. Keiner sieht mehr so recht durch. Auch die Leitung der Insel ist gespalten.

Für Jahre hat Herr Yamato die Proteste geleitet. Damit hatte er de facto die Leistung über die Insel. Ich traf ihn zwei Mal. Auf mich machte er immer den Eindruck eines schmierigen Politikers. Früher arbeitete er sogar für die selbe Stromfirma, gegen die nun protestiert wird. Aber das muss nix heißen. Viele auf der Insel arbeiteten früher für den Konzern. Ist halt ein großer Arbeitgeber in der Region. Aber Yamato ist nicht sehr beliebt, er ist ein etwas unbequemer Arsch Mensch.
Doch gerade deswegen haben ihn die Inselleute immer wieder gewählt. Die Idee war: Wenn er bei uns schon unbequem ist, ist er auch zur Stromfirma unbequem, und kann unsere Interessen vertreten.

Die Rechnung ging auf. Und als der Kampf gewonnen schien, trat Yamato zurück. Herr Shimizu übernahm seine Rolle. Er ist sehr beliebt auf der Insel, ein sehr ruhiger Mensch, immer wohl überlegt.
Im letzten Jahr, wo es nun darum ging, über das Geld zu entscheiden, trat Yamato wieder überraschend zur Wahl an. Shimizu und Yamato – beide haben am Ende gewonnen. Und die Insel bleibt gespalten. Auch wenn Yamato sich seit dem letzten Jahr nie zum Geld geäußert hat. Ob er dafür ist oder nicht ist unklar.

Früher war die Insel vereint und kämpfte gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Stromkonzern.
Der Kampf ist gewonnen, der Feind ist weg.

Nun bekämpfen die Menschen auf der Insel sich selbst.


Ein Bootsbauer auf der Insel bastelt in seiner Freizeit kleine Flugzeuge aus Holz, die auf der Insel verstreut sind

Sollen sie doch das Geld nehmen, meinte pragmatisch der Strahlenexperte auf dem Beifahrersitz. Konkret geht es um eine Milliarde Yen für die Insel. Der Kampf ist aussichtslos, die Insel stirbt. Wie lange können die Senioren noch kämpfen? Zehn, Zwanzig Jahre? Am Ende wird es sie nicht mehr geben, und der Konzern sitzt es aus. Sie sollen lieber das Geld nehmen, schlug der ehemalige Abgeordnete vor, statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Go out with a bang! Und einer großen Party. Denn so zahlen sie mehr oder weniger eine Milliarde Yen für ein Schild, auf dem steht “wir sind gegen das AKW” – während alle anderen in der Region das schon abgesegnet haben.

Die Professorin blieb japanisch höflich: “Ich weiss nicht….”. Der Berliner konnte sich kein deutsches Dorf vorstellen, dass so lange den Widerstand betreiben möchte. Allerdings, entgegnete ich vom Rücksitz, haben deutsche Dörfer Verbindungen auf dem Land und können zur Not weg. Auf der Insel ist man eben auf der Insel. Zudem gilt in Japan irgendwie immer noch das Samurai-Credo. Ehre im Tod. Und die Ehre der Ahnen.
Als was wird man die Insel erinnern? Als die Insel, die 30, 40 Jahre lang gekämpft hat? Oder die Insel, die nach Jahrzehnten am Ende doch aufgegeben hat – und das Geld nahm?

Welche Legende wird bleiben.

Der Abgeordnete schwieg. Die Professorin schaute auf die Karte, denn sie hatte sich verfahren. Wir verpassten dadurch eine der drei Fähren, die am Tag zur Insel fahren. So wie ich damals, 2010, als ich das erste Mal nach Iwaishima fuhr. Damals fragten wir im Hafen einfach herum, bis wir ein Boot fanden, das uns fuhr.
Inspiriert von meinem Erlebnis hielt die Professorin an und fragte. Ich schaute mich um. Es war exakt der gleiche Ort, wo ich vor vier Jahren nach einem Boot fragte. Vier Jahre und drei Bücher später stand ich nun wieder hier. Wieder auf dem Weg zu Insel.

Beim ersten Boot hatte sie gleich Glück. Der Kapitän stammte sogar von der Insel. Obendrein wartete er auf den ehemaligen – und nun wieder – Anführer Yamato. Er war sein Chauffeur.

Im Innern vom Boot lagen Reismatten und Rettungswesten. Yamato senior würdigte mich keines Blickes. Seinen Sohn, den ich vor vier und drei Jahren interviewte, erinnerte sich nach einer kurzen Überlegungszeit an mich. Du warst der mit dem Buch!

Während Yamato junior uns die aktuelle Lage und den Plan für den heutigen Tag erklärte, stand sein Vater mit ausgestrecktem Bein neben dem Kapitän.

Der Anwalt der Insel ist heute gekommen. Zusammen mit dem Inselrat wollen sie eine Lösung finden, die Sache mit dem Geld legal anzufechten. Es gibt da wohl viele Ungereimtheiten, erklärte Yamato junior. Anschließend kommen die Bewohner der Insel für ein Meeting zusammen. Für den nächsten Tag haben sich nämlich Vertreter der Fischerei-Gewerkschaft von der Präfektur angekündigt. Mal wieder. Sie wollen mit den Inselbewohnern reden. Doch die wollen nicht, dass sie überhaupt die Insel betreten. Mit vollen Körpereinsatz wollen sie sie zurück ins Boot drängen. So wie sie es schon oft gemacht haben. Mit Vertretern vom Stromkonzern, mit Anwälten, Politikern.

“Das ist kindisch!”, sagte der Anwalt im Hauptquartier der Protestbewegung auf der Insel. Im schwarzen Anzug lief er auf dunklen Socken auf den Reismatten auf und ab. Um ihm herum saß der Inselrat, Shimizu und wir. Zwischen den Senioren, Fischern und Farmern wirkte er direkt etwas blass.
Jeder hatte vor sich Papiere liegen. Darunter die Vorgangsweise zur Abstimmung über das Geld, und was dabei nicht funktionierte. Ein alter Mann, dünn mit eingefallen Wangen und brauner Haut, durch die sich die Falten wie feine Federstriche durch Reispapier zogen, gab dem Anwalt recht. Es ist kindisch. Die Entscheidung über das Geld ist schon gefallen. Die Leute von der Gewerkschaft wollen nur reden. Sie jetzt zurück zum Boot zu drängen, ändert nichts an der Entscheidung. Wir sollten lieber überlegen, wie wir das ganze auf rechtlichen Wegen ändern können.

Der Anwalt nickte. Allerdings versteht er die Gefühle der Inselbewohner. Sie wollen zeigen, dass sie noch nicht aufgegeben haben. Der Kampf und die Entschlossenheit der Senioren war es schließlich, was ihn überzeugte, die rechtliche Beratung zu übernehmen.
Er ist Mitglied der kommunistischen Partei Japans und großer Fan von Deutschland. Er empfahl der Runde ein japanisches Buch über die PDS und dessen Entwicklung zur Linkspartei. Als ich ihn fragte, was er denn von Gysi hält, war ihm der Name geläufig. Gute Frau, sagte er.
Na, das üben wir noch mal.

Es gab Bento und wir stellten uns reihum vor. Da war eine Autorin aus Tokyo, die zwei Jahre auf der Insel lebte und ein Buch über das alte Leben hier schrieb. In der Ecke, die Kamera in der Hand, saß Tohjo, auch wenn er mich nicht mehr erkannte. Als einer von mehr als 20 jungen Kayak-Aktivisten kam er vor fünf Jahren auf die Insel. Ich interviewte ihn damals für mein Buch. Ich stellte mich nun als der deutsche Fotograf vor. Er nahm sofort die Pose ein, die ich ihn damals für das Buch habe machen lasse. Eine fürchterliche Pose, soviel weiß ich nun, vier Jahre später. Aber er erinnerte sich.
Er wohnt nun nicht mehr hier. Aber seit Fukushima dreht er an einem Film – über die Insel und über Fukushima. Für neues Material ist er jetzt hier.

Shimizu blieb die ganze Zeit still und stellte sich ganz ruhig am Schluss vor. Um seine Rolle als Anführer machte er kein großes Aufheben. In seiner Windjacke und Baseball-Mütze war er von den anderen Senioren nicht mehr zu unterscheiden.

Um 14 Uhr war dann Inseltreffen. Alle sollten kommen. Treffpunkt war im Gemeindehaus, was irgendwie auch als Notfall-Krankenhaus und Bürgeramt funktioniert. Es fiel mir schwer, das Gebäude einzuschätzen. Es war auf jeden Fall nicht jünger als die Bewohner der Insel.

Der Inselrat bereitete das Treffen vor, bei dem der Anwalt über die aktuelle Lage informierte. Tohjo und Hashimoto blickten aus dem Fenster vom Versammlungssaal, in die unsichere Zukunft der Insel.

Nach und nach trafen dann die betagten Herschaften ein. Die alten Damen freuten sich, Tohjo wieder zu sehen. Mit fast 30 gehört er doch zu den wenigen jungen Leuten auf der Insel. Er wohnt inzwischen mit seiner Frau auf dem Festland. Aber man erinnerte sich noch gern an ihn.
Er bat mich auch, keine Fotos von den Senioren zu machen. Zumindest nicht solche, wo man das Gesicht erkennt. Er sagte, dies sind die “echten Inselmenschen” und ich verstand nicht, was er meinte.

Bis ins Treppenhaus drängten sich die Inselmenschen. Alle wollten wissen, wie es weiter geht und was der Plan für morgen ist. Alle lauschten dem Anwalt.
Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Es war sehr viel super-höfliches Japanisch in seinem Monolog. Er lobte die Jahrzehnte des Protests, die harte Arbeit der Senioren. Aber, so bat er sie doch, es nicht zu übertreiben und auf die Gesundheit zu achten. Sie haben genug erreicht, nun ist es an ihm, auf rechtlichen Wegen zu kämpfen.

Yamato senior meldete sich am Schluss vom Monolog. Anschließend gab es Fragen. Yamato junior, sein Sohn, regte an, dass das eigentliche Problem doch die Schulden der Fischer sind. Wenn die Insel es schafft, diese zu beseitigen, dann könnte man aufs Geld verzichten.
Die See ist zwar reich an Fisch, doch der Wettbewerb ist hart. Die Fischer verdienen nicht genug. Größter Kostenfaktor ist der Boss der Fischerei-Gewerkschaft der Insel. Denn der Boss stammt nicht von der Insel und seine Anreise wird teuer bezahlt. Er wurde von der Hauptgewerkschaft geschickt – die ja dem Kernkraftwerk zugestimmt hat.

Als sich alle auf den Weg machten, nahm Shimizu das Mikrofon in die Hand. Er mahnte noch mal zur Vorsicht für den nächsten Tag. Nicht schubsen, nicht gewalttätig werden. Das könnte gegen die Insel verwendet werden. Aber schreien ist okay.
Doch es hörte ihm kaum noch einer zu. Die Hälfte war schon die Treppe runter.

Seit meinem ersten Besuch auf der Insel 2010 hatte sich viel getan. Erst recht nach Fukushima. Es gibt nun Cafés auf der Insel. Eines davon besuchten wir, der Strahlenschutzexpert aus Ostberlin und meine Professorin, zusammen mit dem Inselrat, Anwalt und Shimizu. Man lud uns ein.

Anschließend nahmen der Berliner und die Professorin die letzte Fähre am Tag. Ich wollte noch bleiben. Hashimoto organisierte meine Unterkunft. Es war nicht sein Haus, aber er kümmerte sich darum. Nachdem der Besitzer starb, stand das Haus leer. Nun dient es Aktivisten und “Freunden der Insel” als kostenfreie Übernachtungsmöglichkeit.
Es war das gleiche Haus, wo ich schon vor drei Jahren schlief, bei meinem zweiten Besuch.

Die Autorin aus Tokyo schlug vor, dass wir am Abend zusammen essen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit. Ich wollte erst noch die Insel erkunden, die ich drei Jahre lang nicht mehr sah.



Die verwinkelten Gassen kannte ich noch gut. An einer besonders engen Ecke stieß ich fast mit einer Dame zusammen. Sie erschreckte sich kurz. Ich bin nur Ausländer, sagte ich, kein Grund sich zu erschrecken. Sie lächelte. Bei Ausländern erschrecke ich mich nicht mehr.
Ich lief ein Stück mit ihr.

Sie war eine der Neuen, eines der Cafés auf der Insel gehörte ihr. Als ich ihr sagte, dass ich aus Deutschland komme, sprach sie etwas Deutsch mit mir. Sie hatte acht Monate in Düsseldorf studiert. Sie sprach mit nur einem geringen Akzent, aber viele Worte fehlten ihr. Mir fiel es dann wieder ein, dass ich sie schon einmal sah. Im ZDF.
Als ich 2010 auf der Insel war, war ich der erste deutsche Journalist, der über den Kampf berichtete. Nach Fukushima stürmten die Journalisten dann nach Iwaishima.

Das ZDF war in ihrem Café und stellte sie damals als eine der Neuen auf der Insel vor. Ich bat sie nun also, mir doch mal ihr Café zu zeigen. Heut hat sie zwar geschlossen, aber kurz zeigen war okay. Wir müssen vorher aber noch bei ihrer Meisterin vorbei. Die dampfte grad Algen.

Das habe ich schon ein paar Mal auf der Insel beobachtet. Das Seegras wird getrocknet und/oder geräuchert – und dann u.a. als Delikatesse nach Tokyo geliefert. Es ist tatsächlich sehr lecker und gesund. Schmeckt ein bisschen wie Rotkraut.

In ihrem Café gibt es nur lokales Essen. Der Kaffee ist zwar importiert, aber der Tee, Reis und die Früchte kommen von der Insel. Sie lebt hier alleine, mit einem Hund und einem Huhn. Ihre Familie, sagt sie.


Kokochan, das Huhn, frisst getrocknetes Seegras, während im Hintergrund Wasser aus der Erde gepumpt wird

Auf ihrem Dach hatte sie auch Solaranlagen. Yamato senior hatte als letzte Amtshandlung einen Plan angetrieben, der die Insel komplett unabhängig machen sollte vom Stromkonzern. Doch die Dächer reichten nicht aus, genug Strom für alle zu generieren. Es spaltete die Insel, nicht alle waren dafür. Yamato ging und hinterließ eine halbe Insel mit Solarzellen, die aber komplett noch vom Konzern abhängig war.

Ich gab der Dame vom Café meine Visitenkarte, wie es üblich ist in Japan, wenn man sich vorstellt. Sie schaute etwas grimmig und gab sie mir zurück. Sie will Energie sparen und kein Papier vergeuden. Also sollte ich die Karte doch mal lieber behalten.

Ich zog weiter über die Insel.

Kurz vor dem Haus von Hashimoto kam mir die Autorin aus Tokyo aus einer der dunklen Gassen entgegen. Sie sprach recht schnell, also verstand ich sie kaum. Ich hörte nur “Freund”, “da drüben”, “jetzt” und “shokudô” – was wörtlich “Essenshalle” heisst, aber meist mit “Mensa” übersetzt wird. Wie also vorher abgesprochen sollten wir in einem Restaurant essen gehen. Mit einem Freund, nahm ich an.

Zielsicher bewegte sie sich durch die mittlerweile finsteren Gassen der Insel. Vor einem weißen Haus machte sie halt und sagte: Hier ist es. Draußen war kein Schild, Menü oder Name. Aber wird schon passen, dachte ich mir. In dem Dorf kennt sicher jeder das Restaurant und drinnen gibt es ein Menü.

Geselliger Abend
Der Tisch war gedeckt für zehn Leute. Für uns vier – Tohjo, die Autorin, die Köchin und mich – war es viel zu viel. Es gab gebratenes Wildschwein, fritierte Auster, zwei Schüsseln voll mit Kartoffelsalat, dazu Sushi und Reis. Alles von der Insel. Alles köstlich.

Ich schluckte gerade das Schweinefilet runter, als ich die Köchin zu ihrem Restaurant fragte. “Sagen Sie, wie lange haben Sie schon die shokudô?”
Keiner sagte etwas, alle guckten sich nur irritiert an. Im Hintergrund lief der Fernseher.
Shukudo? Das ist meine Wohnung!

Es stellte sich heraus, dass es die Frau von Hashimoto war. Was die Autorin mir vorher versuchte zu erklären, war, dass wir anstatt in die shukodu, zu einer Freundin gehen und essen. Der ganze Tisch lachte.

Frau Hashimoto wurde auf der Insel geboren, lebte aber mehr als 30 Jahre lang in Osaka und arbeitete als Friseurin. Sie hatte sich den Kansai-Charme behalten. Etwas schnodderig und frech machte sie konstant Witze. Vor allem über den “merkwürdigen Ausländer” wie ich mich selbst beschrieb, als sie mir ein Bier anbot und ich ablehnte (“Was? Aber du bist doch Deutscher! Deutsche lieben Bier!”). Und das schönste war: Jeder Witz hat gezündet. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht wie an diesem Abend. Frau Hashimoto war einfach nur herlich.
Sie könnte direkt aus Berlin stammen. In all ihrer Schnoddrigkeit hatte sie ein gutes Herz. Wie eine Großmutter ermutigt sie mich ständig, mehr zu Essen. Sie holte dann noch den Sake raus und mein Glass war nie leer, weil sie ständig nachschenkte.

Später kamen noch ihr Mann, Shimizu und der halbe Inselrat hinzu. Mit den Männern leerte ich den Sake. Die Autorin hatte sich in die Ecke zurückgezogen und tippte in ihren Laptop.
Nach vier leeren Gläsern war mein Japanisch so gut wie noch nie. Ich verstand 80% von dem, was mir die alten Herren erzählten. Mein Gehirn hat sich auch einfach umgeschaltet. Denn sonst habe ich nämlich immer jemanden dabei, der irgendwie noch Englisch kann. Doch die Professorin, die zuvor für mich übersetzte, war weg. Ich war komplett alleine auf der Insel mit meinem Japanisch. Und es funktionierte.

Im Vorfeld war ich besorgt über meine Neutralität. Die zwei Lager, Yamato und Shimizu – wenn ich mich zu einem bekenne, lehnt der andere mich eventuell. Ich bin Journalist, ich will neutral bleiben. Ich will mich auch nicht von einem Lager ausnutzen lassen, wie wenn z.Bsp. der eine meine Bilder gegen den anderen einsetzt.
Allerdings habe ich vorher immer an Yamato gehangen. Er war Leiter, also als Interviewpartner für mich wichtig. Nun saß ich mit Shimizu am Tisch und war viel mehr integriert in das Leben der Insel, als ich es je mit Yamato war. Shimizu ist beliebter und ich merkte es.

Weisheit der Alten
Ich unterhielt mich mit den Senioren über den Protest und Politik, meine Projekte und den Krieg. Abe, aktueller Premierminister von Japan und Enkel eines hochklassigen Kriegsverbrechers, ist ein absoluter Dilettant in Sachen Aussenpolitik. Regelmäßig verärgert er China und Korea mit ignoranten Äußerungen zum Krieg. Seit er an der Macht ist, gab es in Japan einen ordentlichen Ruck nach Rechts. Die alten Herren am Tisch, teilweise kurz nach dem Krieg geboren, finden Abe furchtbar. Er sorgt nicht gerade für ein aufgeklärtes Volk. Fukushima spielt er runter. Und die Insel ist alleine in ihrem Kampf – Regierung und Bevölkerung sind gegen sie.

Wie man junge Japaner besser aufklären kann fragte ich am Tisch. Es wurde kurz still. Eben lachten wir alle noch kräftig. Frau Hashimoto war in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Einer der Herren sprach.
“Ich habe von meinen Eltern vom Krieg gelernt. Diese Erinnerungen habe ich an meine Kinder und Enkel weitergegeben.”
Aber, so werfe ich ein, wird denn mit jeder Generation die Erinnerung an den Krieg nicht schwächer und weiter entfernt?
“Ja, aber”, sagte er “es wird immer Krieg geben, von dem wir lernen können.”

Bevor es dann am nächsten Tag mit dem Protest los ging, hatte ich noch ein persönliches Ziel: Den Sternenhimmel fotografieren.
Eine Insel im Meer, abseits von der Lichtverschmutzung der Stadt, bot sicher eine grandiose Aussicht. Vor vier Jahren verließ ich die Insel an einem Nachmittag. Vor drei Jahren gab es Dauerregen und einen bewölkten Himmel. Doch jetzt. Jetzt sollte es klappen.

Als ich aus dem Haus von Hashimoto wankte, sah ich bereits die Sterne über den Gassen. Frau Hashimoto rief mir noch hinterher. “Gebt dem Jungen doch ne Taschenlampe mit!” Aber die hat ich schon.

Die Schule ist nun übrigens keine Ruine mehr. Es gibt drei Kinder und zwei Lehrer. Und einen Blog.

Mein Stativ hatte ich nicht dabei. Nur die Taschenlampe, die mir auch die zahlreichen schiefen Treppenstufe zeigte. Ich balancierte das Objektiv auf ihr – bis die Lampe brach.

Guter Zeitpunkt, nachhause zu gehen. Morgen wird ein langer Tag. Für mich, die Insel und die Senioren.

Aufm Deich


Letzte Woche Mittwoch klingelte abends das Telefon. Ob ich am nächsten Tag ins Hochwassergebiet möchte, Bilder mitbringen. Und filmen. Und Ton aufnehmen. Und kleine Texte machen. Und immer schon unterwegs nach Berlin senden.

Klar kann ich das.
Gerne.

Tatsächlich fotografierte und filmte ich recht wenig. Wir waren zu zweit unterwegs, für eine Agentur in Berlin, welche wiederum von einem Verlag in Hamburg beauftragt wurde. Meine Rolle war mehr die des Redakteurs vor Ort, nicht die des Fotografen. Das übernahm meine Kollegin.
Ständig hing ich am Telefon, sprach mit Offiziellen oder versuchte zu organisieren, wo wir die nächsten Bilder und Interviews herbekommen. Wir sind so spontan hingeschickt worden, dass wir keine Ahnung hatten, was überhaupt vor Ort passierte. Wir sind also rumgefahren, haben Leute gesprochen und sind dorthin gegangen, wo es was zu erzählen gab. Direktes journalistisches Handwerk. Einfach mal losfahren und sich die Geschichte vor Ort suchen. Seit Japan hatte ich nicht mehr so gearbeitet – und ich genoss es sehr.
Erst gegen Ende unseres 19 Stunden Einsatz (um 5 Uhr früh ging es bereits los) hatte ich die Gelegenheit, selbst zur Kamera zu greifen.

Die Anstrengung war eine sehr willkommene Abwechslung. Es war der erste Auftrag seit einer Weile. Gerne mehr davon.

Der Letzte druckt das Licht aus

In Leipzig steht die letzte Lichtdruckerei Europas. Nur noch fünf Menschen können die schweren, hundert Jahre alten Maschinen bedienen. Ein Handwerk stirbt aus.

Udo Scholtz beugt sich über die Maschine. Mit dem Ergebnis des Drucks ist der 65 jährige Werkstattleiter noch nicht zufrieden. Es ist zu hell. Er greift nach dem Farbtopf und trägt eine neue Schicht auf. Seit 47 Jahren steht er nun schon fast jeden Tag an der Maschine und trägt Farbe auf. Er weiß, jeder Druck könnte der letzte hier sein.

Im Druckkunstmuseum in Leipzig, in der zweiten Etage, stehen die letzten drei Maschinen, die noch im Betrieb sind. Mehr als hundert Jahre sind die Drucker schon alt. Bald könnten sie zu den schweigenden Buchdruck-Apparaten und Litographen aus der Renaissance-Zeit ins Erdgeschoss gestellt werden. Als Relikte einer anderer Zeit mit anderen Anforderungen.
Noch ist es jedoch nicht soweit. Die Werkstatt ist erfüllt vom strengen Geruch von Schmieröl und Ammoniak. Die schweren Zahnräder aus Stahl drehen sich weiter. Das Geräusch von Metall auf Metall ist der Klang von Widerstand, der nicht enden will. Der Lichtdruck lebt.

Nahezu alle Zeitungen und Bücher werden heutzutage im Offset-Verfahren hergestellt. Lichtdruck war sein Vorgänger und weit verbreitet. Wenn man Udo Scholtz fragt, wie seine alten Maschinen funktionieren, erzählt er gerne. Er legt den Farbspachtel beiseite und setzt sich neben den stählernen Apparat, der halb so breit ist, wie die ganze Werkstatt. Er hat die Geschichte schon oft erzählt. Seit 1868 gibt es die Technik, bei der direkt von einer Glasplatte gedruckt wird. Das Verfahren ähnelt der Fotografie: Das Original eines Bildes oder einer Handschrift wird unter eine lichtempfindliche Gelatine-Schicht auf einer Glasplatte gelegt. Diese bildet nun ein Quellrelief aus. Dichte Stellen im Bild bewirken ein tiefes Relief. Darin sammelt sich die Farbe, die so auf das Papier übertragen wird. Die Qualität ist bis heute unerreicht. Selbst die modernsten digitalen Drucker haben nicht die Auflösung, die ein Lichtdruck bietet. Die Kopie entspricht 1:1 der Vorlage. Teilweise sind die Drucke so gut, dass einige Betrüger schon versuchten die maschinelle Kopie als Original zu verkaufen. Scholtz lacht darüber stolz.

Doch die Technik hat einen Nachteil: Sie taugt nicht für die moderne Massenproduktion, die mehrere 10.000 Kopien von einem Original verlangt. Denn von einer Glasplatte können maximal tausend Drucke am Tag produziert werden, realistisch sind aber nur wenige hundert. Alles andere geht auf Kosten des Materials. Heute soll immer schneller, immer mehr und immer billiger produziert werden. Trotz seiner Qualität, ist für den Lichtdruck da kein Platz mehr.


Vor hundert Jahren produzierten noch über 200 Lichtdruckereien in Deutschland. Heute ist es nur noch eine.

Die Werkstatt in Leipzig stand zu DDR-Zeiten immer im Schatten der großen Druckerei in Dresden. Beide wurden von der Partei kontrolliert. Achim Müller, der 1956 seine Ausbildung zum Lichtdrucker begann, war damals mit dabei. „Für den Erhalt der Diktatur war die Kontrolle der Medien und medienerzeugenden Betriebe notwendig“ sagt er. Druckereien, auch kleine wie in Leipzig, gehörten dazu. So wurde der Lichtdruck zum Parteibetrieb, doch Dresden blieb stets die größere Einrichtung. Sobald Geld verfügbar war für Modernisierungen, wurde es zunächst in die Dresdner Druckerei investiert. Leipzig blieb klein und die Maschinen alt. Rückblickend war das Glück. Denn beim Umrüsten in Dresden wurden die alten Lichtdruck-Maschinen gegen neue Offsetdrucker getauscht. Die waren schneller, lieferten aber schlechtere Qualität. Museen und Galerien vertrauten weiterhin Leipzig. Selbst Staatsoberhaupt Honecker schätzte die Eigenschaften der Abzüge, die wie echt wirkten. Bei Staatsbesuchen verschenkte er oft Lichtdrucke. „Früher galt: Der Lichtdruck an der Wand, das Original im Tresor“ erinnert sich Müller, ein Lichtdrucker im Ruhestand. Er ist jetzt 72 Jahre alt und seit 13 Jahren offiziell nicht mehr Teil der Werkstatt. Er hat sein Leben lang Goethe faksimiliert. Nach der Wende fand er Drucke in Museen im Westen, die durch seine Hand gingen. Nur wenige können den Unterschied zum Original feststellen.

Nach dem Fall der Mauer zerrten die Kräfte des freien Marktes an der kleinen Werkstatt in Leipzig. Das Lichtdruck-Sterben, welches weltweit in den 60er Jahren einsetzte, erreichte auch den Osten. Die Technologie war zu teuer, zu langsam um bestehen zu können, hieß es. Achim Müller machte das nicht lange mit. Im Jahr 1999 wurde ihm angeboten, in den Offsetdruck oder in den Ruhestand zu wechseln. Er wählte die Rente, kommt aber nach wie vor alle paar Wochen in die Werkstatt um mit anzupacken, nach den Maschinen zu sehen oder mit den Mitarbeitern über alte Zeiten zu plaudern.

Die vierköpfige Belegschaft ist sich, was ihren Beruf angeht, einig: Lichtdrucker ist nicht nur ein Job, Lichtdrucker sei man aus Leidenschaft. Das familiäre Umfeld in der Werkstatt entstand vor allem durch die Krisen, durch die sie in der Druckerei gemeinsam gehen mussten.

Als etablierte Lichtdruckereien in Paris, Wien oder Großbritannien geschlossen wurden, reisten die Leipziger um die Welt, um Kontakte zu den noch verbliebenen Werkstätten aufzubauen. Oft sorgten wirtschaftliche Fehlentscheidungen für das Ende der Druckereien. Sie versuchten zu viel in zu kurzer Zeit zu drucken, um konkurrieren zu können. Die hektische Belastung zerstörte die alten Maschinen, die den Arbeitsrhythmus des vorigen Jahrhunderts gewöhnt waren.
Solche Entwicklungen wurden von Leipzig aus skeptisch verfolgt. Im Falle einer Schließung übernahm die ostdeutsche Werkstatt oft die Farbbestände der geschlossenen Betriebe. Mit jedem preiswerten Farbtopf konnte es in Leipzig noch ein paar Druckgänge weitergehen.

Nach dem gescheiterten Versuch als privates Unternehmen zu existieren und konkurrenzfähig zu sein, ist der Lichtdruck in Leipzig heute ein eingetragener Verein. Die Mitarbeiter, die seit mehreren Jahrzehnten die einzigen waren, die an diesen Maschinen ausgebildet wurden, sind heute offiziell nur ABM-Kräfte. Die letzten Vertreter eines Handwerks überleben mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Der Lichtdruck stirbt mit denen, die ihn noch beherrschen.

Lange waren es nur noch drei Werkstätten auf der Welt. Doch seit im letzten Jahr die Gebrüder Alinari in Florenz geschlossen haben, ist der Lichtdruck in Leipzig die letzte Einrichtung in Europa. Außerhalb arbeitet nur noch in Kyoto eine Werkstatt, die direkt für den japanischen Kaiser produziert. Auch die Farben in Leipzig kommen aus Japan. Dort sind sie die einzigen weltweit, die sie noch herstellen. Nur starke Maschinen können die Druckfarben verarbeiten, welche als die kräftigsten überhaupt gelten. Das macht sie auch besonders langlebig. Zum Beweis kratzt Udo Scholtz die Kruste von einem 40 Jahre alten blauen Farbtopf ab und verreibt die Paste auf den Druckrollen. Das Wissen um die Produktion ist so gut wie verloren, und ohne Farbe gibt es keinen Druck.
Achim Müller blickt skeptisch in die Zukunft: „Den Lichtdruck wird es in 50 Jahren nicht mehr geben – außer im Museum“

Udo Scholtz bleibt hingegen pragmatisch. Als Werkstattleiter denkt er lieber an den nächsten Druck, als an die nächsten 50 Jahre. Zwei Maschinen waren heute im Betrieb. Die eine faksimilierte über 200 Jahre alte Briefe von Schiller an Goethe für das Museum in Weimar. Die andere druckte Werke für eine Künstlerin, welche die große Maschine als neues Medium ausprobierte. Beide Geräte müssen nun ruhen. Scholtz wischt noch die Farbe von den Rollen. Ende Juli wird er in Rente gehen. Seine Hoffnung ist dann die 27 jährige Janine Kittler, die vor fünf Jahren die Ausbildung zur Lichtdruckerin begann. Alle hatten ihr von diesem perspektivlosen Beruf abgeraten. Doch für Janine ist Lichtdruck Herzsache.
So auch für Herrn Scholtz. Auch im Ruhestand wird er noch drucken.

Solange es geht.

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Anmerkung: Die Geschichte entstand Anfang des zweiten Semesters, also vor über einem Jahr. Es war die letzte Geschichte mit meiner alten Kamera. Für einen Reportage-Wettbewerb habe ich zusätzlich diesen ergänzenden Text gemacht. Der wurde dann zwar nicht akzeptiert, aber die Multimedia-Produktion bekam eine lobende Erwähnung. Ich würde es heute nicht mehr so schreiben oder fotografieren. Trotzdem ist es eine nette kleine Geschichte und es wäre schade, sie nicht zu zeigen, da sie bisher nie veröffentlicht wurde.