„Es wächst in die Vertikale“

Tokyo ist… garnicht mal so groß wie ich das oft sage. Die meisten Häuser sind nicht höher als zwei Stockwerke. Und wenn ich in die kleine Seitenstraße neben unserem Haus hier in Shinjuku entlang gehe, so sieht es doch hier, im Zentrum einer der größten Metropolen der Welt, doch eher aus wie eine japanische Kleinstadt. Ein Vorort, mit Einfamilienhäusern und sogar einem Tempeln mittendrin. Bin gestern im Sonnenschein mal durch besagte Shoutengai rechts neben unserem Haus entlang spaziert. Feiertagsbedingt waren wenig Leute unterwegs und von an Laternen montierten Lautsprechern spielte leise Musik. Auf einmal wurde durch knarzige Lautsprecher „Downtown“ von Peculia Clark gespielt:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=WUSYb3igXzI&hl=de&fs=1&]

in der solchen Zeilen vorkommen wie:

Just listen to the music of the traffic in the city
linger on the sidewalk where the neon signs are pretty
how can you lose the lights are much brighter there
you can forget all your troubles forget all your cares

Bei dem Begriff „neon signs“ muss ich immer an Tokyo denken… Schon merkwürdig. Zumal ich dieses Lied das erste Mal hörte, als meine Erdkunde-Lehrerin Frau Koblischke (nebenbei auch Musik-Lehrerin) ihn im Unterricht vorsang, um uns nen bestimmten Hinweis zu geben.

Ich schlich mich dann zum Tempel, einer Oase der Ruhe in Tokyo. Die einzigen Geräusche kamen vom Wind in den Bäumen, durch den die warme Abendsonne schien.

Ich habe bewusst die Kamera zuhaus gelassen. Fotografieren ist mein Job, und ich liebe es, aber selbst davon brauch ich mal ne Pause, um auch ein Foto nur für mich zu schießen, mit dem Herzen.

Doch genug davon, worauf ich eigentlich hinauswollte ist die Höhe von Tokyo. Meine eigene Höhe ist übrigens über japanischen Standard (jedoch weit unter deutscher Durchschnittsgröße), weswegen ich mich hier mal richtig groß fühlen kann 😉 Mein Zimmer ist ebenso japanisch klein, „wächst aber langsam in die Vertikale“, wie mein Mitbewohner gestern feststellte, nachdem ich ihm meine neuese Errungenschaft zeigte: Ein Bücherregal!

…welches ich durch halb Tokyo mittels U-Bahn transportieren musste:

Die meisten Zeit hab ich das Regal auf meinem Kopf balanciert, was selbst die Japaner merkwürdig fanden. Und das soll was heissen!

In meinem Zimmer stehen keine Möbel bis auf meine Futon auf dem ich penne und jede Nacht den Rücken malträtiere, und ein Tisch vom Vormieter. Sonst nur blanker Fußboden, auf dem meine ganzen wichtigen Dokumente und/oder Essensreste verstreut liegen. Das konnte so nicht weitergehen und über twitter fand ich dann ein Buchregal für 1000 yen (ca. 8€).

Ein Chinese, der seit 11 Jahren in Tokyo lebt (und an sich an diesem morgen derbe beim Rasieren geschnitten hatte… seine ganze linke Gesichtshälfte war rot und mit Pflastern zugeklebt) wollte sich vom Regal trennen um Platz zu machen zuhause. Er wohnte in Oshiage, das ist im östlichen Teil von Tokyo.

Also ich aus der Station heraustrat sah ich das:

Ein gigantisches Baugerüst was sich majestätisch zwischen den ganzen Wohnhäusern aufbaute und doch so seltsam platziert aussah. Solch ein großes Ungetüm zwischen all den kleinen japanischen Häusern.

Das ist der Tokyo Sky Tree, welcher in drei Jahren über 600m gewachsen sein soll, und damit ein bisschen weniger als doppelt so hoch wäre wie der Tokyo Tower, im Westen der Stadt.

Der Turm gehört zu einer Reihe von Projekten, die als „Rising East Project“ zusammengefasst werden. Meiner Vermutung nach soll es diese östliche, etwas vom Zentrum entfernte Ecke von Tokyo wiederbeleben.


links: wie es mal aussehen soll, rechts: wie es grad aussieht

Viele Japaner fotografierten das Gerüst und viel mehr das Schild, wo der fertige Turm drauf war. Sie stellten sich davor und grinsten in die Kamera, als ob das Schild allein schon eine Sehenswürdigkeit ist.

Aber zugegeben, wenn der fertig ist, sieht der schon cool aus:

hoch
Quelle: japanite.com

Die Anwohner, die ich zum Turm befragte, sahen dem Ergebnis eigentlich recht positiv entgegen, gerade weil es diese Ecke etwas belebt, und neue Geschäfte hinzukommen. Der Hauptgrund für den Bau dieses Turms ist ein besserer Fernsehempfang, er soll größtenteils als Sendemast fungieren (und natürlich auch als Touristenfalle). Und ich glaube von dem Turm aus kann man wirklich gut fern sehen.

höher
Quelle: wikipedia.org

Das Ganze toppt eigentlich nur noch der Tokyo Millenium Tower der jedoch wohl nicht allzubald das Licht der Welt in Tokyo verdecken wird:

am höchsten

ebenso hoch

Der Turm soll(te) 840m hoch werden und als eigenständige Stadt funktionieren. Dieses Jahr sollte es eigentlich los gehen, aber da hat die Wirtschaftskrise wohl etwas Jenga gespielt, und wichtige Bauteile, nämlich Geld, entfernt.

Es macht durchaus Sinn in einer Stadt wie Tokyo und in einem Land wie Japan, in dem „Platz“ zu den schwindenen Ressourcen gehört, konsequent in die Höhe zu bauen. Oder um es wie mein Mitbewohner zu sagen:

„Du wächst in die vertikale, Fritz. Evolutionshistorisch gesehen ist das ein sehr richtiger Schritt“

Trotzdem schlaf ich immernoch auf dem Fußboden, mit ner 5cm dicken Matte dazwischen. Auch wenn sich dieser Fußboden mal in 800m höhe befinden sollte, so sollten die Matratzen auch relativ dazu wachsen – sonst kann ich auch unten bleiben.

3 Gedanken zu „„Es wächst in die Vertikale““

  1. Da steckt ja ein Poet in Dir. Mit dem Herzen fotografieren, ich weiss genau was Du meinst. Da würde eine reale Kamera nur stören.Ich schätze deine sehr ausführlichen Berichte sehr. Und was die Höhe des Futons in Relation zur Höhe des Gebäudes betrifft so denke ich das die Rückenschmerzen proportional abnehmen zur Höhenangst die sich, zumindest bei mir, ab einer gewissen Höhe einstellt.

    Ach ja, bevor ich es vergesse. Nein ich bin kein Lehrer, weiss gar nicht wie Du auf den Gedanken kommst ),D

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