Verspätung

Der zähe Abschied von Hannover, in einem leeren Zug.

Und dann war sie leer. Meine Wohnung in Hannover, die nicht einmal in Hannover liegt. Vor einer Woche packte ich vier volle Taschen und zwei volle Mülltüten mit Klamotten, Bettwäsche, Kamera und Unterlagen ins Auto und fuhr nach Berlin. Nur für eine Nacht kam ich zurück, für einen Termin und die letzten Sachen, die sich noch in eine Umhängetasche stopfen ließen. Reißverschluss zu und fertig. Die Wohnung war leer.

Mein Fahrrad, welches draußen vor dem Haus auf mich wartete, sollte nach zwei Jahren endlich wieder nach Berlin rollen. Im IC 2951 um 17.31 von Hannover Hauptbahnhof Richtung Osten.
Bereits um 17.00 Uhr bin ich am Gleis. Vielleicht, weil ich es nicht mehr erwarten kann, Hannover zu verlassen. Vielleicht auch, weil ich befürchte, wenn ich den Zug auch nur irgendwie verpasse, ewig hier bleiben zu müssen. Aber es sollen ja nur 31 Minuten Wartezeit sein. Dachte ich.

Vierzig Minuten nach der geplanten Abfahrt, fährt mein Zug erst in Hannover ein. Der Radwagen ist ganz hinten. Neben mir steigt dort nur ein Mann Anfang 30 ein. Seine Radlerhose passt farblich zu den Taschen an seinem Rennrad.

Es sind nur zwölf Personen im hintersten Wagen. Alles Senioren, überall graue Haare. Nur der Mann Anfang 30 war die Ausnahme. Doch auch bei ihm werden die Haare dünner.
Kaum sitze ich, kommt schon die Ansage.

„Unsere Abfahrt verzögert sich noch um 10 bis 15 Minuten, bitte haben sie etwas Geduld.“

Ich habe keine Eile. Nach zwei Jahren geht es wieder nach Berlin. Ob mit 10 oder 15 Minuten Verspätung ist dann auch egal.

Nach 10 oder 15 Minuten eine neue Ansage.

„Aufgrund einer technischen Störung der Tür im Bordrestaurant, muss der Wagen abgekoppelt werden. Wir bitten alle Passagiere der vorderen drei Wagen den Zug zu räumen.“

Der halbe Zug entlädt sich aufs Bahngleis in Hannover. Trotz Rauchverbots wird nun überall gepafft. Gegen den Stress.

Nach einem kurzen Ruck durch den Zug, folgt wieder eine Ansage.

„Aufgrund einer technischen Störung verzögert sich unsere Abfahrt auf unbestimmte Zeit“

Ein leichtes, resigniertes Stöhnen geht durch den hintersten Wagen.

„Reisende nach Berlin nehmen bitte den ICE 18.31 Uhr von Gleis 8.“

Ich stehe bereits auf und gehe nach vorne. Der Mann Anfang 30 tut es mir gleich. Doch im Rest des Wagens herscht Irritation. Nimmt der ICE überhaupt Fahrräder mit? Gilt mein Ticket da noch?

Nach einer Pause wieder eine Ansage:

„Reisende mit Fahrrädern bleiben bitte im Zug.“

Der hinterste Wagen lacht erschöpft.

Blick auf die Uhr. 18.24. Die Klimaanlage schaltet sich aus. Zwei Zugbegleiterinnen kommen in den letzten Wagen. Die eine mit dunklen Haaren und so breit wie der Gang. Die andere, etwas jünger, mit gebräunter Haut und blondierten Haaren. Sie sagt kein Wort und versteckt sich hinter ihrer resoluten Kollegin. Diese erklärt uns im besten Berlinerisch die Situation. Das Bordrestaurant ist jetzt abgekoppelt. „Aber ick weeß ooch nicht. Kieken wa ma.“ Ich kann ihr nicht böse sein.

Eine Seniorin fragt: Sind wir jetzt alleine im Zug? Die Berlinerin sagt: Ja.
„Machen wa Privat-Party!“
Erschöpfte Erheiterung. Aber kein Stress. Keine Hektik. Kein Zeitdruck.

Als sie weg sind, fängt ein Senior mit Gerüchten an. „Ab 30 Minuten Verspätung gibt es Geld zurück.“
Vorne wird auf die Uhr geschaut und gerechnet, wie viel es denn gibt.

Ich klaue mir aus den vorderen Wagen eine Zeitung. Kein Platz ist mehr besetzt. Nur drei Wagen vor mir sitzt noch ein junger Mann mit Pickeln im Gesicht. Er reckt seinen Hals Richtung Fenster, wo gerade der ICE nach Berlin einfährt. Ansonsten: Leere.

Um 19.03 dann ein kräftiger Ruck. Die Kimaanlage springt wieder an. Nach drei weiteren Rucklern ist klar: Wir fahren. Neunzig Minuten nach der geplanten Abfahrt. Doch wir fahren. Der leere Zug fährt.

„19.34 Uhr sind wir in Braunschweig“ sagt eine Dame durch den Zug. Ohne berliner Akzent.
Ich blättere die Zeitung durch. Es ist das Blatt, für das ich gearbeitet hatte. Ich lese von Berlin. Schrebergärten und Heuschrecken, FKK und Westdeutsche, Roma, Türken, Döner und Beginn der Schule.


Vor mir in der Ablage. Nein Danke, ich hab schon.

Kurz vor 20 Uhr kommt ein junger Mann mit Brille und in Uniform der Deutschen Bahn in unseren Wagen. Als kleine Entschädigung verteilt er Gummibärchen und Pfefferminzdrops. In seiner Hand hat er auch einen frischen Stapel Sudoku-Hefte. Die Folie weht noch leicht um die zehn Hefte in seiner Hand.
Eine Seniorin fragt, ob wir doch noch über Braunschweig fahren. Er lächelt nur und meint, das macht seine Kollegin. Er ist nur der Bordgastronom. Sein Wagen ist allerdings weg. „Ich hab ja da vorne nichts zu tun. Ist ja keiner mehr hier“ sagte er mit einem verzweifelten Lächeln. Ich nehme ihm ein paar Pfefferminz ab.

Acht Wagen gehören nun zum Zug. Fast alle sind leer. Neben den 13 Leuten im hintersten Wagen bei den Fahrrädern, verteilen sich noch sieben weitere Personen im restlichen Zug. Dazu noch sechs Zugbegleiter, die mich aufgeregt anschauen, als ich an ihnen vorbei gehe. Vielleicht hätten sie gern was zu tun.

Im Wagen Drei sitzt alleine ein Mann mit Rastalocken und dicken Taschen. Nur leicht konzentriert löst er Sudoku.
Im Wagen Vier sitzt eine ältere Berlinerin. Sie liest gerade den Text in der Zeitung über FKK und kratzt sich dabei über das gebräunte Dekolleté.
Die erste Klasse ist leer.

Die Berlinerin von vorhin überprüft nun unsere Tickets. Ihre blondierte Kollegin, stets hinter ihr, verteilt dabei lächelnd Formulare, um Entschädigung für die Verspätung geltend zu machen. Ab 60 Minuten gibt es 25%, ab 120 Minuten 50% vom Fahrpreis zurück. Eine Auszahlung erfolgt erst ab vier Euro. Aber, so empfiehlt es das Formular, sollte es mal nicht ausreichen, können die Formulare einfach gesammelt werden.
Bei der zweiten oder dritten Verspätung können dann einfach alle zusammen abgegeben werden.

Im hintersten Wagen herscht Gelassenheit. Die Senioren, die teilweise schon seit Düsseldorf hier sitzen, wollen einfach nur noch nach Berlin. Sie haben keine Eile.
Mein Vordermann ist seit Bielefeld dabei. „Das war die kürzeste Radtour meines Lebens, bin in Bielefeld auf die Schnauze geflogen!“. Beim Aussteigen aus dem Zug ist er mit dem Fuß umgeknickt. Das Schienbein musste genäht werden. Auf seiner Windhose war das getrocknete Blut gut zu sehen. Ab jetzt: keine Hektik mehr.

In meiner Tasche befinden sich die Reste von zwei Jahren Hannover. Tee (Schwarz und Grün), Bettwäsche, eine Tasse von der Bahn (Souvenir) und eine Pepsi aus dem Automaten in der Uni, in der ich kurz zuvor noch ein letztes Mal war.

Der Zug ist so leer wie meine Wohnung und mein Terminplan. Eigentlich wollte ich schon längst in Japan sein, mein Auslandssemester beginnen. Doch mein Abflug verspätet sich. Es gab noch etwas mit meiner Wohnung zu erledigen. Dann gab es auch noch ein besonderes Mädchen, für die ich gern länger geblieben und kürzer geflogen wäre. Doch es hat nicht funktioniert. Es hat unter anderem wegen Japan nicht funktioniert. Also fliege ich und verlasse Hannover für ein Jahr.

Über Magdeburg geht die Sonne unter. Neben uns zieht die Elbe vorbei. Auf einer Sandinsel grillen ein paar Kinder. Einen Erwachsenen sehe ich nicht. Etwas abseits der Gruppe steht ein junges Paar, vielleicht 12 Jahre alt. Er umarmt sie, doch sie schaut müde weg. Rechts von ihnen winkt ein Mädchen Richtung Zug. Ich winke zurück. Dazu Sonnenuntergang.

Es ist die ruhigste Zugfahrt, die ich je hatte. Die Senioren sind still, der neben mir lauscht leise einem Hörbuch. An diesem Samstagabend sind im gesamten Zug nach Berlin nur 27 Menschen.

Gegen 21 Uhr fahren wir durch Nebel. Die Sonne haben wir in Magdeburg gelassen.

Kurz hinter Potsdam gibt es Bewegung im letzten Wagen. Die Senioren packen schon für Hauptbahnhof. Eine Schlafmütze, die ich jetzt erst sehe, steht neben ihnen vor den Fahrrädern und kratzt sich irritiert den dunklen Kinnbart. Vor lauter Senioren und Rädern kommt er an sein eigenes gar nicht ran.

Der Funkturm leuchtet in den Zug. Überall Lichter, Großstadt. Drinnen Senioren in Windjacken, die Gepäck an Fahrräder schrauben.

Links zieht die Station Charlottenburg vorbei. „Das war ein Mal“ sagt mein Vordermann Richtung Fenster. „Kein Zug hält hier mehr.“

Savigny-Platz. Ein Pärchen steht wie alleine unter S-Bahn-Licht. Er versucht einen Kuss zu erhaschen, doch sie dreht sich sanft weg. Er macht den Tanz mit.

Bahnhof Zoo.
„Zoo.“ sag ich zu meinem Vordermann. „Zoo.“ sagt er. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Hinter Bellevue geh auch ich zu meinem Rad und versuche es aus der Halterung zu heben. Ich habe Probleme und bitte einen Senior um Mithilfe. „Können Sie zahlen?“ fragt dieser schnippisch zurück. Ich verwechsel ihn mit meinem Vordermann und denke an das Schienbein. „Oh, sie können ihr Bein nicht belasten, wa?“. Zu spät sehe ich, dass ihm das Blut auf der Hose fehlt. Doch der Senior fühlte sich von meinem Kommentar genug provoziert, um mein Rad alleine aus der Halterung zu heben. „Und zum Schluss auch noch dreckije Pfoten!“ raunt er, als er das Schmieröl an seinen Händen bemerkt.

Halb zehn Uhr abends. Es scheint, nach all den Verspätungen kann nun keiner mehr warten, endlich aus dem Zug zu kommen.

21.39 Uhr. Berlin-Hauptbahnhof. Die resolute Zugbegleiterin steht noch eine Weile vor dem Wagen und wartet darauf, dass noch einer rauskommt. Doch der Zug ist leer. Irritiert steht sie trotzdem noch vor der Tür. Sonst dauert die Abfertigung sicher länger.

Dem Bahnmitarbeiter am Gleis am Berliner Hauptbahnhof erzählt ein Zugbegleiter gerade die ganze Misere der Fahrt. Die Geschichte von 90 Minuten Verspätung, von 20 Passagieren in acht Wagen und dem ICE in Hannover, der doppelt so viele Leute wie üblich transportieren musste. Doch den Berliner beschäftigt viel mehr, wie Hertha gerade gespielt hat.
„Peinlich war dit!“

Mit dem Rad aus dem Bahnhof, über die Brücke, die Straße runter und dann rechts. Zuhause. Nach zwei Jahren ist mein Fahrrad endlich in Berlin.

Ick bin wieder da.

Zeitweise.

2 Gedanken zu „Verspätung“

  1. Hört sich an wie im Ostblock nach 89. Mainz ist ja auch ein aktuelles Gesprächsthema in Bezug auf die DB.
    Bei uns läuft’s überraschenderweise ganz gut. Dafür werden leider kleine Strecken systematisch seit Zerfall der Monarchie abgebaut, und der Verkehr auf die Straße umgelegt…

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