Live and Sea

In der Nacht, eine Email. Eine Professorin meiner Uni bittet mich nach Iwaishima.“Fritz, deine Anwesenheit und deine Kamera kann etwas bewirken!“

Zusammen mit ihr machte ich mich auf den Weg zur Insel vor Hiroshima.

Die Professorin kannte ich vom Namen, aber getroffen hatte ich sie bisher noch nicht. Ich bat sie mich bei meinen Projekten in Hiroshima zu unterstützen, doch sie winkte immer ab. Sie war zu beschäftigt. Zudem hatte sie gerade die ganze Arbeit für meinen Vorgänger erledigt, den letzten Fotojournalismus-Studenten aus Hannover. Doch jetzt war es eilig. Gegen 3 Uhr früh kam ihre Email.

Iwaishima – Insel unweit von Hiroshima in der Yamaguchi-Präfektur, gelegen in der wunderschönen Seto-Inlandssee. Nur noch 360 Menschen leben hier, 80% von ihnen mehr als 60 Jahre alt. Jedes dritte Haus steht leer, weil es keine lebenden Verwandten mehr gibt, oder Leute, die auf der Insel wohnen wollen. Die Insel stirbt.

Aber: Die Insel kämpft. Seit den 80er Jahren wollte der Stromkonzern Chugoku Denryoku, einziger Stromanbieter in Westjapan, ein Atomkraftwerk vor der Insel bauen. Auf der Rückseite der Halbinsel Kaminoseki sollten die Kühltürme versteckt werden, direkt an der Küste vom Meer. Die einzigen, die das Kraftwerk gesehen hätte, wären die Bewohner von Iwaishima gewesen. Sie waren auch die einzigen, die das Kraftwerk ablehnten.

Den Senioren von Iwaishima ist es zu verdanken, dass bis heute nicht einmal das Fundament vom Kraftwerk steht. Schon lange vor Fukushima protestierten sie gegen den Bau. Und nach Fukushima sah es so aus, als würde nichts mehr passieren. Die Baupläne wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die Alten hatten gewonnen.

Am Montag Morgen um 7 Uhr stand ich vor der Uni. Die Professorin wollte mich in ihrem Auto abholen und zur Fähre bringen. Gemeinsam wollten wir zur Insel aufbrechen und mit dem Inselrat sprechen. Auf dem Weg sammelten wir noch einen deutschen Experten für Strahlenschutz ein, der gerade für ein Seminar in Hiroshima war. Er war Ost-Berliner und saß früher im Senat. Die Professorin erklärte uns die aktuelle Lage während ich mit dem ehemaligen Abgeordneten aus Berlin im gelben Toyota saß.

Es geht um Geld. So genanntes Garantie-Geld wurde von der Stromfirma allen Fischer der Region angeboten, für den Fall, dass was passiert. Es ist aber mehr oder weniger Schweigegeld, um das Kraftwerk zu akzeptieren. Denn sollte wirklich was passieren, ist die gesamte See verseucht und alle Fischer arbeitslos.
Alle Fischer in der Region nahmen das Geld an. Alle – bis auf Iwaishima.

Doch jetzt, nach Fukushima, gehen die Fischer auf der Insel nicht mehr davon aus, dass das Kraftwerk jemals gebaut werden wird. Warum also nicht jetzt das Geld nehmen?
Es gab eine öffentliche Abstimmung auf der Insel im letzten Jahr, bei der sich die Mehrheit der Fischer gegen das Geld ausgesprochen haben. In den nächsten Tagen riefen sie dann aber nach und nach heimlich bei der Stromfirma an. Sie haben ihre Meinung geändert oder waren von der Abstimmung verwirrt. Sie sind aber voll dafür, das Geld zu nehmen. Ergebnis: Die Mehrheit entschied sich für das Geld, die Stromfirma kann nun auszahlen.

Auf der Insel gibt es nun zwei Lager und die Graben sind tief. Auch wenn die Verteilung nicht gleichmäßig ist: Nur knap 35-50 Menschen wollen das Geld. Alle anderen lehnen es ab.

Das ganze wird nun aber noch komplizierter:
Seit mehr als zehn Jahren sitzt das Geld für die Fischer auf Konten der Regierung. Als nämlich in den 90er Jahren die Stromfirma die Fischer von Iwaishima auszahlen wollten, überwies die Insel das Geld gleich wieder zurück. Es landete dann auf kommunalen Konten, die das Geld nicht anrühren dürfen.
In den Jahrzehnten haben sich aber Zinsen und Steuern auf die Summe angesammelt, von denen keiner so recht weiß, wer sie nun bezahlen muss. Die lokale Regierung, die für den Bau vom Kraftwerk ist, will natürlich das Geld ausbezahlt sehen, und sich nicht mehr mit dem Problem vom „fremden Geld“ befassen müssen. Zudem gibt es anscheinend auch eine Frist, nach der das Geld verfällt. Keiner sieht mehr so recht durch. Auch die Leitung der Insel ist gespalten.

Für Jahre hat Herr Yamato die Proteste geleitet. Damit hatte er de facto die Leistung über die Insel. Ich traf ihn zwei Mal. Auf mich machte er immer den Eindruck eines schmierigen Politikers. Früher arbeitete er sogar für die selbe Stromfirma, gegen die nun protestiert wird. Aber das muss nix heißen. Viele auf der Insel arbeiteten früher für den Konzern. Ist halt ein großer Arbeitgeber in der Region. Aber Yamato ist nicht sehr beliebt, er ist ein etwas unbequemer Arsch Mensch.
Doch gerade deswegen haben ihn die Inselleute immer wieder gewählt. Die Idee war: Wenn er bei uns schon unbequem ist, ist er auch zur Stromfirma unbequem, und kann unsere Interessen vertreten.

Die Rechnung ging auf. Und als der Kampf gewonnen schien, trat Yamato zurück. Herr Shimizu übernahm seine Rolle. Er ist sehr beliebt auf der Insel, ein sehr ruhiger Mensch, immer wohl überlegt.
Im letzten Jahr, wo es nun darum ging, über das Geld zu entscheiden, trat Yamato wieder überraschend zur Wahl an. Shimizu und Yamato – beide haben am Ende gewonnen. Und die Insel bleibt gespalten. Auch wenn Yamato sich seit dem letzten Jahr nie zum Geld geäußert hat. Ob er dafür ist oder nicht ist unklar.

Früher war die Insel vereint und kämpfte gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Stromkonzern.
Der Kampf ist gewonnen, der Feind ist weg.

Nun bekämpfen die Menschen auf der Insel sich selbst.


Ein Bootsbauer auf der Insel bastelt in seiner Freizeit kleine Flugzeuge aus Holz, die auf der Insel verstreut sind

Sollen sie doch das Geld nehmen, meinte pragmatisch der Strahlenexperte auf dem Beifahrersitz. Konkret geht es um eine Milliarde Yen für die Insel. Der Kampf ist aussichtslos, die Insel stirbt. Wie lange können die Senioren noch kämpfen? Zehn, Zwanzig Jahre? Am Ende wird es sie nicht mehr geben, und der Konzern sitzt es aus. Sie sollen lieber das Geld nehmen, schlug der ehemalige Abgeordnete vor, statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Go out with a bang! Und einer großen Party. Denn so zahlen sie mehr oder weniger eine Milliarde Yen für ein Schild, auf dem steht „wir sind gegen das AKW“ – während alle anderen in der Region das schon abgesegnet haben.

Die Professorin blieb japanisch höflich: „Ich weiss nicht….“. Der Berliner konnte sich kein deutsches Dorf vorstellen, dass so lange den Widerstand betreiben möchte. Allerdings, entgegnete ich vom Rücksitz, haben deutsche Dörfer Verbindungen auf dem Land und können zur Not weg. Auf der Insel ist man eben auf der Insel. Zudem gilt in Japan irgendwie immer noch das Samurai-Credo. Ehre im Tod. Und die Ehre der Ahnen.
Als was wird man die Insel erinnern? Als die Insel, die 30, 40 Jahre lang gekämpft hat? Oder die Insel, die nach Jahrzehnten am Ende doch aufgegeben hat – und das Geld nahm?

Welche Legende wird bleiben.

Der Abgeordnete schwieg. Die Professorin schaute auf die Karte, denn sie hatte sich verfahren. Wir verpassten dadurch eine der drei Fähren, die am Tag zur Insel fahren. So wie ich damals, 2010, als ich das erste Mal nach Iwaishima fuhr. Damals fragten wir im Hafen einfach herum, bis wir ein Boot fanden, das uns fuhr.
Inspiriert von meinem Erlebnis hielt die Professorin an und fragte. Ich schaute mich um. Es war exakt der gleiche Ort, wo ich vor vier Jahren nach einem Boot fragte. Vier Jahre und drei Bücher später stand ich nun wieder hier. Wieder auf dem Weg zu Insel.

Beim ersten Boot hatte sie gleich Glück. Der Kapitän stammte sogar von der Insel. Obendrein wartete er auf den ehemaligen – und nun wieder – Anführer Yamato. Er war sein Chauffeur.

Im Innern vom Boot lagen Reismatten und Rettungswesten. Yamato senior würdigte mich keines Blickes. Seinen Sohn, den ich vor vier und drei Jahren interviewte, erinnerte sich nach einer kurzen Überlegungszeit an mich. Du warst der mit dem Buch!

Während Yamato junior uns die aktuelle Lage und den Plan für den heutigen Tag erklärte, stand sein Vater mit ausgestrecktem Bein neben dem Kapitän.

Der Anwalt der Insel ist heute gekommen. Zusammen mit dem Inselrat wollen sie eine Lösung finden, die Sache mit dem Geld legal anzufechten. Es gibt da wohl viele Ungereimtheiten, erklärte Yamato junior. Anschließend kommen die Bewohner der Insel für ein Meeting zusammen. Für den nächsten Tag haben sich nämlich Vertreter der Fischerei-Gewerkschaft von der Präfektur angekündigt. Mal wieder. Sie wollen mit den Inselbewohnern reden. Doch die wollen nicht, dass sie überhaupt die Insel betreten. Mit vollen Körpereinsatz wollen sie sie zurück ins Boot drängen. So wie sie es schon oft gemacht haben. Mit Vertretern vom Stromkonzern, mit Anwälten, Politikern.

„Das ist kindisch!“, sagte der Anwalt im Hauptquartier der Protestbewegung auf der Insel. Im schwarzen Anzug lief er auf dunklen Socken auf den Reismatten auf und ab. Um ihm herum saß der Inselrat, Shimizu und wir. Zwischen den Senioren, Fischern und Farmern wirkte er direkt etwas blass.
Jeder hatte vor sich Papiere liegen. Darunter die Vorgangsweise zur Abstimmung über das Geld, und was dabei nicht funktionierte. Ein alter Mann, dünn mit eingefallen Wangen und brauner Haut, durch die sich die Falten wie feine Federstriche durch Reispapier zogen, gab dem Anwalt recht. Es ist kindisch. Die Entscheidung über das Geld ist schon gefallen. Die Leute von der Gewerkschaft wollen nur reden. Sie jetzt zurück zum Boot zu drängen, ändert nichts an der Entscheidung. Wir sollten lieber überlegen, wie wir das ganze auf rechtlichen Wegen ändern können.

Der Anwalt nickte. Allerdings versteht er die Gefühle der Inselbewohner. Sie wollen zeigen, dass sie noch nicht aufgegeben haben. Der Kampf und die Entschlossenheit der Senioren war es schließlich, was ihn überzeugte, die rechtliche Beratung zu übernehmen.
Er ist Mitglied der kommunistischen Partei Japans und großer Fan von Deutschland. Er empfahl der Runde ein japanisches Buch über die PDS und dessen Entwicklung zur Linkspartei. Als ich ihn fragte, was er denn von Gysi hält, war ihm der Name geläufig. Gute Frau, sagte er.
Na, das üben wir noch mal.

Es gab Bento und wir stellten uns reihum vor. Da war eine Autorin aus Tokyo, die zwei Jahre auf der Insel lebte und ein Buch über das alte Leben hier schrieb. In der Ecke, die Kamera in der Hand, saß Tohjo, auch wenn er mich nicht mehr erkannte. Als einer von mehr als 20 jungen Kayak-Aktivisten kam er vor fünf Jahren auf die Insel. Ich interviewte ihn damals für mein Buch. Ich stellte mich nun als der deutsche Fotograf vor. Er nahm sofort die Pose ein, die ich ihn damals für das Buch habe machen lasse. Eine fürchterliche Pose, soviel weiß ich nun, vier Jahre später. Aber er erinnerte sich.
Er wohnt nun nicht mehr hier. Aber seit Fukushima dreht er an einem Film – über die Insel und über Fukushima. Für neues Material ist er jetzt hier.

Shimizu blieb die ganze Zeit still und stellte sich ganz ruhig am Schluss vor. Um seine Rolle als Anführer machte er kein großes Aufheben. In seiner Windjacke und Baseball-Mütze war er von den anderen Senioren nicht mehr zu unterscheiden.

Um 14 Uhr war dann Inseltreffen. Alle sollten kommen. Treffpunkt war im Gemeindehaus, was irgendwie auch als Notfall-Krankenhaus und Bürgeramt funktioniert. Es fiel mir schwer, das Gebäude einzuschätzen. Es war auf jeden Fall nicht jünger als die Bewohner der Insel.

Der Inselrat bereitete das Treffen vor, bei dem der Anwalt über die aktuelle Lage informierte. Tohjo und Hashimoto blickten aus dem Fenster vom Versammlungssaal, in die unsichere Zukunft der Insel.

Nach und nach trafen dann die betagten Herschaften ein. Die alten Damen freuten sich, Tohjo wieder zu sehen. Mit fast 30 gehört er doch zu den wenigen jungen Leuten auf der Insel. Er wohnt inzwischen mit seiner Frau auf dem Festland. Aber man erinnerte sich noch gern an ihn.
Er bat mich auch, keine Fotos von den Senioren zu machen. Zumindest nicht solche, wo man das Gesicht erkennt. Er sagte, dies sind die „echten Inselmenschen“ und ich verstand nicht, was er meinte.

Bis ins Treppenhaus drängten sich die Inselmenschen. Alle wollten wissen, wie es weiter geht und was der Plan für morgen ist. Alle lauschten dem Anwalt.
Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Es war sehr viel super-höfliches Japanisch in seinem Monolog. Er lobte die Jahrzehnte des Protests, die harte Arbeit der Senioren. Aber, so bat er sie doch, es nicht zu übertreiben und auf die Gesundheit zu achten. Sie haben genug erreicht, nun ist es an ihm, auf rechtlichen Wegen zu kämpfen.

Yamato senior meldete sich am Schluss vom Monolog. Anschließend gab es Fragen. Yamato junior, sein Sohn, regte an, dass das eigentliche Problem doch die Schulden der Fischer sind. Wenn die Insel es schafft, diese zu beseitigen, dann könnte man aufs Geld verzichten.
Die See ist zwar reich an Fisch, doch der Wettbewerb ist hart. Die Fischer verdienen nicht genug. Größter Kostenfaktor ist der Boss der Fischerei-Gewerkschaft der Insel. Denn der Boss stammt nicht von der Insel und seine Anreise wird teuer bezahlt. Er wurde von der Hauptgewerkschaft geschickt – die ja dem Kernkraftwerk zugestimmt hat.

Als sich alle auf den Weg machten, nahm Shimizu das Mikrofon in die Hand. Er mahnte noch mal zur Vorsicht für den nächsten Tag. Nicht schubsen, nicht gewalttätig werden. Das könnte gegen die Insel verwendet werden. Aber schreien ist okay.
Doch es hörte ihm kaum noch einer zu. Die Hälfte war schon die Treppe runter.

Seit meinem ersten Besuch auf der Insel 2010 hatte sich viel getan. Erst recht nach Fukushima. Es gibt nun Cafés auf der Insel. Eines davon besuchten wir, der Strahlenschutzexpert aus Ostberlin und meine Professorin, zusammen mit dem Inselrat, Anwalt und Shimizu. Man lud uns ein.

Anschließend nahmen der Berliner und die Professorin die letzte Fähre am Tag. Ich wollte noch bleiben. Hashimoto organisierte meine Unterkunft. Es war nicht sein Haus, aber er kümmerte sich darum. Nachdem der Besitzer starb, stand das Haus leer. Nun dient es Aktivisten und „Freunden der Insel“ als kostenfreie Übernachtungsmöglichkeit.
Es war das gleiche Haus, wo ich schon vor drei Jahren schlief, bei meinem zweiten Besuch.

Die Autorin aus Tokyo schlug vor, dass wir am Abend zusammen essen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit. Ich wollte erst noch die Insel erkunden, die ich drei Jahre lang nicht mehr sah.



Die verwinkelten Gassen kannte ich noch gut. An einer besonders engen Ecke stieß ich fast mit einer Dame zusammen. Sie erschreckte sich kurz. Ich bin nur Ausländer, sagte ich, kein Grund sich zu erschrecken. Sie lächelte. Bei Ausländern erschrecke ich mich nicht mehr.
Ich lief ein Stück mit ihr.

Sie war eine der Neuen, eines der Cafés auf der Insel gehörte ihr. Als ich ihr sagte, dass ich aus Deutschland komme, sprach sie etwas Deutsch mit mir. Sie hatte acht Monate in Düsseldorf studiert. Sie sprach mit nur einem geringen Akzent, aber viele Worte fehlten ihr. Mir fiel es dann wieder ein, dass ich sie schon einmal sah. Im ZDF.
Als ich 2010 auf der Insel war, war ich der erste deutsche Journalist, der über den Kampf berichtete. Nach Fukushima stürmten die Journalisten dann nach Iwaishima.

Das ZDF war in ihrem Café und stellte sie damals als eine der Neuen auf der Insel vor. Ich bat sie nun also, mir doch mal ihr Café zu zeigen. Heut hat sie zwar geschlossen, aber kurz zeigen war okay. Wir müssen vorher aber noch bei ihrer Meisterin vorbei. Die dampfte grad Algen.

Das habe ich schon ein paar Mal auf der Insel beobachtet. Das Seegras wird getrocknet und/oder geräuchert – und dann u.a. als Delikatesse nach Tokyo geliefert. Es ist tatsächlich sehr lecker und gesund. Schmeckt ein bisschen wie Rotkraut.

In ihrem Café gibt es nur lokales Essen. Der Kaffee ist zwar importiert, aber der Tee, Reis und die Früchte kommen von der Insel. Sie lebt hier alleine, mit einem Hund und einem Huhn. Ihre Familie, sagt sie.


Kokochan, das Huhn, frisst getrocknetes Seegras, während im Hintergrund Wasser aus der Erde gepumpt wird

Auf ihrem Dach hatte sie auch Solaranlagen. Yamato senior hatte als letzte Amtshandlung einen Plan angetrieben, der die Insel komplett unabhängig machen sollte vom Stromkonzern. Doch die Dächer reichten nicht aus, genug Strom für alle zu generieren. Es spaltete die Insel, nicht alle waren dafür. Yamato ging und hinterließ eine halbe Insel mit Solarzellen, die aber komplett noch vom Konzern abhängig war.

Ich gab der Dame vom Café meine Visitenkarte, wie es üblich ist in Japan, wenn man sich vorstellt. Sie schaute etwas grimmig und gab sie mir zurück. Sie will Energie sparen und kein Papier vergeuden. Also sollte ich die Karte doch mal lieber behalten.

Ich zog weiter über die Insel.

Kurz vor dem Haus von Hashimoto kam mir die Autorin aus Tokyo aus einer der dunklen Gassen entgegen. Sie sprach recht schnell, also verstand ich sie kaum. Ich hörte nur „Freund“, „da drüben“, „jetzt“ und „shokudô“ – was wörtlich „Essenshalle“ heisst, aber meist mit „Mensa“ übersetzt wird. Wie also vorher abgesprochen sollten wir in einem Restaurant essen gehen. Mit einem Freund, nahm ich an.

Zielsicher bewegte sie sich durch die mittlerweile finsteren Gassen der Insel. Vor einem weißen Haus machte sie halt und sagte: Hier ist es. Draußen war kein Schild, Menü oder Name. Aber wird schon passen, dachte ich mir. In dem Dorf kennt sicher jeder das Restaurant und drinnen gibt es ein Menü.

Geselliger Abend
Der Tisch war gedeckt für zehn Leute. Für uns vier – Tohjo, die Autorin, die Köchin und mich – war es viel zu viel. Es gab gebratenes Wildschwein, fritierte Auster, zwei Schüsseln voll mit Kartoffelsalat, dazu Sushi und Reis. Alles von der Insel. Alles köstlich.

Ich schluckte gerade das Schweinefilet runter, als ich die Köchin zu ihrem Restaurant fragte. „Sagen Sie, wie lange haben Sie schon die shokudô?“
Keiner sagte etwas, alle guckten sich nur irritiert an. Im Hintergrund lief der Fernseher.
Shukudo? Das ist meine Wohnung!

Es stellte sich heraus, dass es die Frau von Hashimoto war. Was die Autorin mir vorher versuchte zu erklären, war, dass wir anstatt in die shukodu, zu einer Freundin gehen und essen. Der ganze Tisch lachte.

Frau Hashimoto wurde auf der Insel geboren, lebte aber mehr als 30 Jahre lang in Osaka und arbeitete als Friseurin. Sie hatte sich den Kansai-Charme behalten. Etwas schnodderig und frech machte sie konstant Witze. Vor allem über den „merkwürdigen Ausländer“ wie ich mich selbst beschrieb, als sie mir ein Bier anbot und ich ablehnte („Was? Aber du bist doch Deutscher! Deutsche lieben Bier!“). Und das schönste war: Jeder Witz hat gezündet. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht wie an diesem Abend. Frau Hashimoto war einfach nur herlich.
Sie könnte direkt aus Berlin stammen. In all ihrer Schnoddrigkeit hatte sie ein gutes Herz. Wie eine Großmutter ermutigt sie mich ständig, mehr zu Essen. Sie holte dann noch den Sake raus und mein Glass war nie leer, weil sie ständig nachschenkte.

Später kamen noch ihr Mann, Shimizu und der halbe Inselrat hinzu. Mit den Männern leerte ich den Sake. Die Autorin hatte sich in die Ecke zurückgezogen und tippte in ihren Laptop.
Nach vier leeren Gläsern war mein Japanisch so gut wie noch nie. Ich verstand 80% von dem, was mir die alten Herren erzählten. Mein Gehirn hat sich auch einfach umgeschaltet. Denn sonst habe ich nämlich immer jemanden dabei, der irgendwie noch Englisch kann. Doch die Professorin, die zuvor für mich übersetzte, war weg. Ich war komplett alleine auf der Insel mit meinem Japanisch. Und es funktionierte.

Im Vorfeld war ich besorgt über meine Neutralität. Die zwei Lager, Yamato und Shimizu – wenn ich mich zu einem bekenne, lehnt der andere mich eventuell. Ich bin Journalist, ich will neutral bleiben. Ich will mich auch nicht von einem Lager ausnutzen lassen, wie wenn z.Bsp. der eine meine Bilder gegen den anderen einsetzt.
Allerdings habe ich vorher immer an Yamato gehangen. Er war Leiter, also als Interviewpartner für mich wichtig. Nun saß ich mit Shimizu am Tisch und war viel mehr integriert in das Leben der Insel, als ich es je mit Yamato war. Shimizu ist beliebter und ich merkte es.

Weisheit der Alten
Ich unterhielt mich mit den Senioren über den Protest und Politik, meine Projekte und den Krieg. Abe, aktueller Premierminister von Japan und Enkel eines hochklassigen Kriegsverbrechers, ist ein absoluter Dilettant in Sachen Aussenpolitik. Regelmäßig verärgert er China und Korea mit ignoranten Äußerungen zum Krieg. Seit er an der Macht ist, gab es in Japan einen ordentlichen Ruck nach Rechts. Die alten Herren am Tisch, teilweise kurz nach dem Krieg geboren, finden Abe furchtbar. Er sorgt nicht gerade für ein aufgeklärtes Volk. Fukushima spielt er runter. Und die Insel ist alleine in ihrem Kampf – Regierung und Bevölkerung sind gegen sie.

Wie man junge Japaner besser aufklären kann fragte ich am Tisch. Es wurde kurz still. Eben lachten wir alle noch kräftig. Frau Hashimoto war in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Einer der Herren sprach.
„Ich habe von meinen Eltern vom Krieg gelernt. Diese Erinnerungen habe ich an meine Kinder und Enkel weitergegeben.“
Aber, so werfe ich ein, wird denn mit jeder Generation die Erinnerung an den Krieg nicht schwächer und weiter entfernt?
„Ja, aber“, sagte er „es wird immer Krieg geben, von dem wir lernen können.“

Bevor es dann am nächsten Tag mit dem Protest los ging, hatte ich noch ein persönliches Ziel: Den Sternenhimmel fotografieren.
Eine Insel im Meer, abseits von der Lichtverschmutzung der Stadt, bot sicher eine grandiose Aussicht. Vor vier Jahren verließ ich die Insel an einem Nachmittag. Vor drei Jahren gab es Dauerregen und einen bewölkten Himmel. Doch jetzt. Jetzt sollte es klappen.

Als ich aus dem Haus von Hashimoto wankte, sah ich bereits die Sterne über den Gassen. Frau Hashimoto rief mir noch hinterher. „Gebt dem Jungen doch ne Taschenlampe mit!“ Aber die hat ich schon.

Die Schule ist nun übrigens keine Ruine mehr. Es gibt drei Kinder und zwei Lehrer. Und einen Blog.

Mein Stativ hatte ich nicht dabei. Nur die Taschenlampe, die mir auch die zahlreichen schiefen Treppenstufe zeigte. Ich balancierte das Objektiv auf ihr – bis die Lampe brach.

Guter Zeitpunkt, nachhause zu gehen. Morgen wird ein langer Tag. Für mich, die Insel und die Senioren.

6 Gedanken zu „Live and Sea“

    1. Die Sterne? Nunja, nicht ganz. Wenn man die Belichtungszeit nämlich zu lang macht, hat man keine Punkte mehr sondern Linien, weil die Erde sich ja dreht. Es bleibt also nur ein kurzes Zeitfenster. Damit ich das halten kann: Blende auf, ISO hoch. Und bewusst unterbelichten und am Rechner dann noch etwas aufhellen. Der Tempel brauchte viel Arbeit so, weil es keine andere Lichtquelle gab. Die Schule kam so aus der Kamera, weil die noch Restlicht vom Dorf erhielt.

  1. Shokudô? ^_-Nach der Bonenkai habe ich auch das beste Japanisch ever gesprochen XD
    Aber so wie es mir danach ging, bleibe ich lieber bei meinem Schlechten…
    Ich kenne ein paar junge aufgeklärte Japaner. Das sind dann die, die am Liebsten auswandern möchten..
    Ich kenne auch genug Japaner, die das von Abes Großvater nicht wissen..
    Im Moment schauen so viele auf den Aufschwung der Wirtschaft und vergessen den Rest 🙁
    Ich finde diese Art von Artikel von dir immer sehr interessant.
    Freue mich auf den nächsten!
    Aber du… arbeite mal an deinen Tippfehlern, die Buchstaben verschwinden lassen! Sonst brauche ich nen Tropfen Wermut ^_-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert