Making of: Houshischnitt

Doppelt so lange wie die Puppen und auch doppelt so lange im Schnitt: An „Houshi“ habe ich insgesamt zwei Monate gearbeitet. Die Geschichte war einfach viel komplexer.
„Houshi“ ist mein erster Film für den die Musik komponiert wurde.

Ich habe in dem einen Jahr in Hiroshima an vier Filmen gedreht. Nur einen davon, die Puppen, habe ich noch in Japan fertig gestellt. Den Rest schneide ich jetzt hier in Deutschland. Und dafür nehme ich mir viel, viel Zeit.

Zunächst war gar nicht geplant, dass „Houshi“ mein zweiter Film wird. Lieber hätte ich vorher ein großes Projekt abgeschlossen, an dem ich mehr gearbeitet hatte, als an allen drei Filmen zusammen. Allerdings waren dort noch nicht alle Interviews übersetzt, also konnte ich nicht anfangen. Die Übersetzungen von „Houshi“ hatte ich schon seit Mai, eh ich also tatenlos rumsitze nur Uni-Kram mache, begann ich mit Houshi.

(Auf die übersetzten Interviews vom anderen Projekt warte ich noch bis heute.)

Verglichen mit dem direkten Vorgänger ist „Houshi“ ganz anders. Es lebt weniger von dem Kuriosum, als von der Emotionalität und Ehrlichkeit der Protagonisten.
Drei Personen zu interviewen und passend zu schneiden ist nicht ganz einfach. Mein Ziel war es aber von Anfang an, die Mitglieder der Familie gegenseitig über sich erzählen zu lassen und das dann gegeneinander zu schneiden. Die Aussagen und Ansichten entwickeln dann eine direkt Konfrontation miteinander und für den Zuschauer.

Bei den Puppen war meine Motivation meine Großmutter, die häufig vom Tod spricht. Durch den Film wollte ich etwas für mich über das Thema lernen.
Bei „Houshi“ war meine Motivation meine eigene Familie. Mein Vater ist Journalist und ich bin es auch. Daraus entstehen natürlich immer wieder Konflikte, wenn die Kinder den gleichen Job der Eltern ausüben. Durch den Besuch bei Familie Houshi wollte ich auch etwas über meine eigene Familie lernen.

Bevor ich die Interviews führte, sah meine grobe Vorstellung der Handlung bzw. Beziehung der Charaktere so aus:


Der Hintergrund ist übrigens eine Lampe im Houshi, bespannt mit washi

Mutter, Vater und Tochter sind gleichberechtigt und alle kreisen um das Ryokan, was für sie im Zentrum steht. Die Interviews gestaltete ich auch so. „Wie würdest du deinen Vater beschreiben?“, „Was ist deine Tochter für ein Mensch?“ und so weiter. Ich wollte als vierten Charakter auch das Hotel etablieren und habe mir von der Familie erzählen lassen, wie sie das Houshi Ryokan beschreiben würden, wenn es ein Mensch wäre. Der Vater sagte dazu „Es ist wie ein alter, weiser Mann“ und die Tochter sagte „Es ist wie ein Großvater, der vieles gesehen hat. Schönes und Schlechtes gleichermaßen.“

In den Interviews merkte ich aber schnell, dass der zentrale Konflikt eigentlich zwischen Vater und Tochter existiert. Als vierte Person, die über allen schwebt, ist nicht das Ryokan – sondern der Bruder.

Man könnte das Story-Diagramm auch so zeichnen:

Das Ryokan wie als Käfig, in dem der Vater von oben diktiert, aber doch am Ende so gefangen ist wie all die anderen in diesem Hotel.
Man kann es auch als Kreis zeichnen oder wie auch immer. Es war für mich nur ein Ansatz, diese komplexe Geschichte zu sortieren, ist dann aber schnell aus dem Diagramm gewachsen. Das Leben ist ja auch kein technisches Schema.


Screenplay

Die Interviews habe ich dann auf die wichtigsten Aussagen gekürzt und farbig ausgedruckt. Blau für Zengoro, Rot für Hisae und Grün für die Mutter. So konnte ich die Geschichte besser komponieren und direkt die Aussagen der einzelnen Personen aufeinander knallen lassen.

Dabei kann man schon gut sehen, welche Person den größten Anteil hat. In der ersten Version war das eindeutig Zengoro, was ich nach und nach reduziert habe. Ich habe mich dabei immer gefragt: Was weiß der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt des Films? Wie kann ich darauf aufbauen? Oder die aufgebaute Erwartung brechen? Was kann ich danach Neues erzählen?

Jede Figur hat eine Funktion im Film

Hisae ist eindeutig das Herz, ihre Aussagen sind emotional, ehrlich und stehen teilweise in Widerspruch mit der kühlen Rationalität des Vaters. Zengoro ist das Gehirn, er gibt die wichtigen Infos zur Exposition, wie lange das Hotel existiert und über die Geschichte. In Narrationen benutzen wir häufig den Begriff Fallhöhe, um eine Spannung zu beschreiben und zu erzeugen. Zengoro definiert die Höhe, von der Hisae dann fällt. Hirn und Herz.

Gleichzeitig versuche ich ihn auch nicht als herzloses Monster zu zeichnen, oder Hisae als doofes Mädchen.

Dann ist da noch die Mutter. Einige haben mir gesagt, dass die Geschichte die Mutter nicht braucht. Ich finde schon, denn sie spiegelt die Geschichte von Hisae. Es ist ein Blick in die mögliche Zukunft der Tochter. Bevor Hisae überhaupt im Film auftaucht, wissen wir schon um die Realität von Vater und Mutter und können so Hisaes Aussagen ganz anders bewerten. Der Film macht eine Wandlung durch, und damit auch der Zuschauer.

Eine Sinfonie für 1.300 Jahre

Dieser Film war der erste, für den Mario Kaoru Mevy die Musik gemacht hat. Und es wird garantiert nicht der letzte sein.

Mario habe ich getroffen als ich… wobei, getroffen habe ich ihn bis heute nicht. Ich habe ihn gefunden.

Als die Puppen im April 2014 online gingen und langsam populär wurden, verfolgte ich noch stündlich die Klickzahlen auf Vimeo. Ganz zu anfang schaute ich mir auch noch jeden User an, der das Video bei Vimeo geherzt hat. Ich wollte ja wissen, was für Leuten meine Arbeit gefällt. Mittlerweile geht das nicht mehr, da es viel zu viele sind, aber bevor die Puppen die 1.000 Views erreichten, ging das noch (heute sind die Zahlen bei einer halben Million, wenn man alle Veröffentlichungen einberechnet auch noch mehr).

Einer der ersten, die das Video herzten, war eben Mario, der auf seiner Vimeo-Seite Uploads mit seiner Musik hatte. Darunter auch viel aus Japan, schließlich stammt ein Teil seiner Familie von dort. Ich hörte mich kurz rein. Seine Musik traf absolut genau meinen Geschmack. Er hat das Talent, Geschichten mit Tönen zu erzählen, eine Stimmung sehr gut einzufangen und in Musik zu übersetzen. Ich hörte mich anschließend durch seine ganze Homepage. An den Moment erinnere ich mich noch sehr gut.

Es war ein später Abend in Hiroshima, ich saß noch in der Uni. Ich war der einzige im Arbeitsraum im dritten Stock und drehte die Lautsprecher vom großen iMac laut auf. Es spielte Marios „Office Worker“ Album. Mein Professor kam zur Tür rein und stellte nur trocken fest „Fritz, mal wieder so spät am Arbeiten.“ Er fragte mich, was das für eine Musik ist und ich sagte: „Das ist der Musiker, der für meine nächste Filme komponieren wird!“

Wobei ich zu dem Zeitpunkt Mario noch nicht mal eine Email geschrieben hatte, ob er sich das überhaupt vorstellen kann… Aber ich war zuversichtlich.

Wir waren uns schnell einig und Mario war von Anfang an mit Begeisterung und Energie dabei. Auch sonst haben wir einen sehr ähnlichen Musikgeschmack und Vorstellungen, wohin die Reise gehen soll.


So komponiert man heutzutage

Der ursprüngliche Gedanke war, für drei Personen drei Instrumente zu nehmen. Aber ich lass das mal lieber Mario erzählen:

Eine Melodie, ein Thema für die Familie hatte ich schon früh im Ohr. Es sollte angelehnt sein an Japanische Lieder und Fernsehdramen, leicht Klischee-haft und natürlich vom Klavier gespielt. Ein modernes Instrument für die Gegenwart. Diese Melodie ist am Anfang und zum Schluss zu hören. Doch dann fehlt natürlich noch was.

Beim Durchhören meiner Klang Library sind dann drei weitere Instrumente in meinem Ohr hängen geblieben:

Das Vibraphon, welches perfekt für Anfang und Ende passte und den Fluss der Zeit akzentuiert.
Die gezupften Streicher, die eine weiche und elegante Rhythmik für die leichteren Abschnitte brachten.
Und vor allem der Synthesizer, der mich stark an eine Sho (eine Japanische Mundorgel) erinnerte. Das Instrument was die tausendjährige Geschichte, das komplexe und zugleich auch schwere Erbe, verkörpert.

So spielen diese Instrumente zusammen, treten seicht auf die Bühne und verschwinden wieder. Fast schon wie Geister und Feen. Abhängig davon was ausgesprochen oder unausgesprochen in der Luft liegt. 
Ein Beispiel sind die aufeinanderfolgenden Tracks „The Past and Present“ und „Dear Brother“: wir hören das Klavier, das die Sorgen und Gedanken der Tochter ausspricht. Allerdings unterlegt von der Sho – das Erbe, welches sie umgibt. Es verschwindet sobald es um den Bruder geht. Die Trauer der Familie steht im Mittelpunkt. Die Vergangenheit schweigt respektvoll. Verlust und Trauer, wie sie nur in der Gegenwart existieren können.

Musik im Film.
 Für mich bedeutete es bei diesem Projekt dem Zuschauer sanft eine Decke um die Schultern zu legen, sie und ihn zu begleiten und zuweilen mich sanft und respektvoll mit dem Unterbewusstsein zu unterhalten. Eine elegante und leichte Decke, weit und umfassend. Kaum spürbar im Gewicht und doch wohlig wärmend.
Ich hoffe es ist gelungen!

Als Mario mir die erste Version vom Soundtrack schickte, hatte ich tatsächlich Tränen in den Augen.
Er hat die Charaktere und ihren Konflikt wirklich komplett verstanden, ohne sie je getroffen zu haben.

Anschließend begann dann ein langer Prozess den Ton zu optimieren. Ich bin da teilweise sehr perfektionistisch, denn alles muss im Film stimmen. Setzt die Musik auch nur eine halbe Sekunde zu spät ein, muss nachgebessert werden. Zum Schluss waren es vorallem die Übergange der einzelnen Szenen und Plotpunkte, die viel Feinschliff brauchten. Auch weil ich den Schnitt immer mal wieder mittendrin geändert hatte und die Musik dann länger oder kürzer werden musste. Aber Mario hat meist schon nach wenigen Worten genau verstanden, was ich wollte. Meistens traf er es sogar besser, als ich mir das vorher überlegt hatte.


Ich habe drei Tage investiert bis ich die finale Version vom Titel hatte. So viel zum Thema „viel Zeit nehmen“

Der Schnitt

Weil ich auf Vimeo gefragt wurde, habe ich es mal ausgerechnet:
Ungefähr sind es insgesamt 480 Minuten Material – Acht Stunden. Davon sind vier Stunden Interview und vier Stunden Clips und Bilder. Das alles dann eingedampft auf 12:08. Es hätte auch länger sein können, klar. Aber es wäre dadurch nicht unbedingt besser oder stärker geworden.

Es folgt jetzt mehr oder weniger eine Analyse mit Hintergründen. Ich empfehle, parallel das Video laufen zu lassen, falls es eucht wirklich richtig, richtig interessiert.

Wie immer, erste Sekunde ist Schwarzbild, aber der Ton setzt schon ein.
Der Anfang ist das Wichtigste und daran arbeite ich auch am Längsten. Ich habe einiges ausprobiert aber bei dem Wasserbild hat sich gleich alles richtig angefühlt. Das Bild steht 34 Sekunden und gibt sehr gut den langsamen Rhythmus der Geschichte vor. Der zentrale Konflikt, Familie, wird gleich im ersten Satz definiert.
Wenn ich übrigens ohne Brille schwimmen gehe, sieht es bei mir genau so aus, mit den unscharfen Lichtkugeln.
Dann der Titel. Ich hab lange überlegt, wie ich den Film jetzt nenne. Es sollte nichts mit Familie oder Geschichte im Titel haben, denn das wäre mir zu platt gewesen. Das Simpelste ist dann noch das beste. „Houshi“ statt „Hōshi“, „Hoshi“ oder „法師“ weil es einfach zu schreiben und für mich zu googeln ist (um zu entdecken, wo das Video geklaut gezeigt wird). Bei „Valley of Dolls“ hatte ich zum Beispiel nicht bedacht, dass es schon ein Sexploitation-Film mit gleichen Titel gibt.
Die Musik spielt hier als Echo, ich hab über den Titel auch noch ganz, ganz leise etwas Windrauschen gelegt.
Wir haben ihn schon gehört, jetzt wollen wir ihn auch sehen: Zengoro Houshi. Auf die visuelle Gestaltung der Interviews habe ich diesmal sehr viel Wert gelegt, da komme ich gleich noch zu.
Die erste Minute ist schon fast rum, also wird es endlich Zeit das Hotel mal zu sehen. Beachtet den Schatten vom Vogel.
Gleich mit dem ersten Bild wird klar, in was für einer Art Hotel wir uns hier befinden. Es ist das erste und gleichzeitig das letzte Bild im gesamten Film wo eines der Gästezimmer von innen gezeigt wird. Es braucht auch nicht mehr.
Ich stelle mir auch immer wieder gerne vor, wie der alte Zengoro hier früher Verstecken spielte. Im Interview erzählte er mir auch, wie er sich früher ein kleines Boot baute und den Fluss im Garten entlang paddelte.
Mir wurde schon ein paar Mal gesagt, dass ich eine sehr japanische Sicht bzw. Erzählweise habe. Die Tür hier habe ich auf Hinweis zwei Japaner, Miki und mein Professor, mit reingenommen. In Japan gelten abgegriffen Türen wie diese als erfahren und somit schön.
Der Schnitt ist im Rhythmus der Musik, das Thema deutet sich zögerlich an.
Die Tour durch das Hotel ist beendet und wir bewegen uns wieder nach draußen. Man kann bei dem Bild schon den alten, riesigen Garten erahnen und wie klein das Hotel doch trotz seiner historischen Größe ist. Naomi nannte das Houshi mal ein Kleinod, ich einen versteckten Schatz.
Die Zimmer waren bisher leer, aber das Houshi ist natürlich noch in Betrieb. Jetzt kommen die Gäste. Ich mag die Einstellung ganz gerne, weil nach und nach immer mehr Beine hinzukommen. Man sieht auch welche Art von Gästen es sind, ohne dass ich es im Text noch erklären muss.
Achtet auch mal auf die Formulierung: „Das war die Regel in diesem Ryokan“. Es deutet schon die große Veränderung und die Auflösung vom Ende an.
Natürlich nennt mir Zengoro wie viele Zimmer das Houshi hat, aber das brauche ich ihn nicht mal sagen lassen, es reicht ein Bild wie dieses, damit der Zuschauer ein Gefühl dafür bekommt, dass es nicht gerade klein ist das Hotel.
Jetzt kommen die Zaubertricks des Schnitts: Alle Bilder aus der Lobby sind zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden. Mittendrin wechsle ich sogar die Achsen. Aber man merkt es nicht bewusst bzw. man fällt beim Anschauen nicht raus. Das Bild hier finde ich nicht so glücklich, da der Fokus auf dem Balken und nicht der Person liegt.
Während der ganzen Szene dreht das Thema deutlich auf, wir sind jetzt – wie die Gäste – komplett im Ryokan angekommen. Willkommen!
Jetzt können wir etwas tiefer gehen, Auftritt Mutter. Ich blende übrigens niemals den Namen oder die Funktion der Person ein, trotzdem wird klar, wer es ist. Ich persönlich mag Filme nicht, wo man nur sprechende Köpfe hat. Die eingeblendeten Namen vergisst man eh schnell wieder, sofern man sie überhaupt wahrnimmt.
Nun kommt der erste Konflikt, der allerdings schon seit 50 Jahren geklärt ist. Ab dieser Stelle wird klar, dass der Film keine PR-Nummer für das Hotel ist. Ab hier wurde mir im Interview auch klar, dass ich eine ganz andere Geschichte finden kann, mit offenen Aussagen, als ich erwartet hatte.
Ist ein bisschen platt, kann man aber machen: Zwei dunkle Figuren gehen ein Weg entlang, dazu die Aussage mit der Hochzeit. Bevor man merken kann, dass es nicht Mutter und Vater sind, ist schon längst aufs nächste Bild geschnitten. Ich habe übrigens eine lange Zeit vor diesem Fenster gewartet, damit auch jemand vorbei kommt.
Das Bild habe ich primär gebraucht, um wieder von innen nach außen gehen zu können, denn jetzt kommt der Garten.
Das war übrigens mein erster Ansatz für die Heiratsszene. Spinne im Netz… Da wurde mir dann aber gesagt: „Fies!“
Mutter Houshi spricht sehr komisch, diese Sequenz ist viel länger als sie sein müsste, nur damit ihr Japanisch Sinn macht. Es wirkt etwas lang gezogen finde ich, aber so sieht man mehr vom Garten. Der Blick in den trüben Himmel ist natürlich eine Metapher für die unsichere Hoffnung auf Liebe.
Die Langsamkeit der Worte gibt ihnen auch etwas Gewicht und Zeit zu reflektieren. Denn natürlich spricht die Mutter hier nicht über die Kinder, sondern sie spricht über sich selbst. Sie hätte sich eine romantische Liebe gewünscht und sie hätte etwas anderes als eine arrangierte Ehe lieber gehabt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich persönlich kenn das aber sehr gut, wenn Eltern oder Geschwister die eigenen Wünsche auf das Kind projizieren und durch sie leben möchten.
Die Entscheidung wann welches Bild kommt hat oft mehr als nur eine Begründung. Manchmal auch nicht, und das Bild ist dann schwach. Der richtige Schnitt sollte die Geschichte voran bringen, visuell spannend sein und etwas über das reine Bild hinaus erzählen – eine Stimmung oder einen tiefen Gedanken. Der Fluss mit Koi drin wird bei einem Video über ein japanisches Gasthaus erwartet. Gleichzeitig ist der Fisch, der im ewig gleichen, künstlichen Fluss seine Bahnen zieht eine Metapher. Auch die Houshis können nichts anderes machen als ihren festbestimmten Weg zu gehen. Die Ehe ist arrangiert, der Koi ist arrangiert.
Hinten rechts ist mein Zimmer.
Alle Bilder zuvor waren nur Details. Erst jetzt kann man den Garten in voller Größe erfassen. Genau wie man zu diesem Zeitpunkt auch den Zustand dieser Familie größer erfassen kann.
Vom Fluss und Gartenteich springen wir weiter auf der Wasseroberfläche zur heissen Quelle. Die letzte Aussage von der Mutter spricht davon, dass sie sich Veränderung wünscht, die nächste vom Vater sagt dann gleich wieder „Eins hat sich nie verändert“ – die heisse Quelle. Auf dem Bild ist übrigens Shou, der chinesische Angestellte. Und ja, auch ich war nur mit Handtuch bekleidet.
Die Quelle hat einen Aussen- und Innenbereich. Zwischen den beiden hin und her schneiden konnte ich nicht wirklich, ohne dass es verwirrend ist. Das erste Bild vom Wasser zu Beginn ist übrigens von außen. Drinnen war die Luftfeuchtigkeit extrem hoch, meine Brille und Kameralinse waren fast ständig beschlagen. Das Stativ, geliehen von meinem Professor, habe ich teilweise versenkt. Merkte er aber zum Glück nicht… Carbon rostet ja nicht.
Vater Houshi spricht jetzt aber auch davon, dass sich etwas geändert hat. Das macht seinen Sinneswandel am Ende des Films glaubhafter. Es erzählt zum einen die Geschichte des Hotel und gleichzeitig zeichnet es seinen Charakter. Und Geishas müssen in einer Geschichte über Japan immer mit dabei sein.
Nun gibt es einen großen Sprung, der zum Glück nicht so auffällt, da es ein visueller Cut ist. Wir schneiden von reflektierender Oberfläche (Wasser) zu einer anderen reflektierender Oberfläche (Glas). Das Bild an sich ist nicht so schön, wir nennen so was immer Reproduktion, weil nur etwas bereits bestehendes abfotografiert wird. Hier ist es aber notwendig, da es durch das Guinness Logo die Behauptung von Zengoro legitimiert. Jeder alte Japaner kann ja behaupten, ein uraltes Hotel zu haben. Dieses Dokument verleiht nicht nur meinem Film damit Glaubwürdigkeit.
Übergang zum nächsten Plotpunkt und ein sehr wichtiges Bild. Hinten rechts ist der erwähnte Hakusan. Den Hinweis gab mir mein Professor, der meinte, dass der Hakusan zusammen mit dem Fuji zu den drei heiligen Bergen Japans gehört. Die mittelbare Nähe zum Houshi ist bedeutsam, gleichzeitig mit der Verknüpfung der Geschichte.
Ich hab natürlich mehrere Videos und Fotos vom Hakusan vom Dach des Houshi gemacht. Warum ist dieses drin? Weil drei Vögel durch das Bild fliegen, akzentuiert durch drei Töne. Drei Vögel, drei Familienmitglieder, zwischen Berg und Hotel. Das muss man nicht mal bewusst wahrnehmen, es dient einfach nur die Geschichte dichter zu gestalten.
Das war an meinem vorletzten Tag des ersten Besuchs. Ich bat Naomi mehrmals mir irgendwie die Familienbilder digital zu geben, aber natürlich existieren die nur auf Papier. Vater Houshi holt also das Familienalbum raus und erzählt, während ich fix alle durchfotografiere. Ich hab erst später entschieden, welche ich denn nehme.
Es ist natürlich ein intimer Akt, jemanden sein Familienalbum zu zeigen und auch noch fotografieren zu lassen. Aber wie gesagt, für Vater Houshi gibt es mittlerweile keinen Unterschied mehr zwischen Familie und Geschäft. Beides ist das Gleiche, es gibt keine Trennung. Wenn es dem Geschäft nützt, einem fremden die alten Fotos zu zeigen, dann macht man das. Das dürfen wir auch nicht mit unserer Wertevorstellung bewerten. Das gehört für ihn so dazu wie für uns das Weihnachtsessen mit der Familie.

Die alten Fotos waren alle fantastisch und in gutem Zustand. Von der Meiji-Zeit (19.Jhd) über die Zeit zwischen und während der Kriege, bis zu den 70er Jahren konnte man die ganze Geschichte der Fotografie und japanischer Gesellschaft ablesen. Blöd nur, dass die Fotos meist hochkant waren. Für 16:9 musste ich da manchmal tricksen, wie hier. Aber die Geisha von hinten war zu schön um sie nicht zu zeigen.
Schönes Foto, welches im Original übrigens nicht so kontrastreich oder staubfrei ist. Das Foto entstand während des 2. Weltkrieges, siehe Uniform. Da wir den Garten kurz zuvor gesehen haben, können wir auch einordnen wo das Bild entstand, zumindest ist die Assoziation zum Hotel da. Es sind übrigens nicht alle Mitglieder der Familie, die Personen rechts sind zum Teil einfach nur Angestellte (die aber dadurch irgendwie auch zur Familie gehören)
Hier stellt er sich zum ersten Mal vor, gekoppelt mit der Info, nun zur 46. Generation zu gehören. Das ist absolut wichtig für die Aussage von Hisae später. Er guckt dabei zu mir, denn ich sitze rechts der Kamera.
Ich spiele ganz gerne mal mit dem Rätsel „Ist es ein Foto oder ein Video?“ Bei den Puppen klappte das recht häufig, hier hatte ich mich entschieden aber zu 95% nur Video zu verwenden. Die Einstellung ist ein Übrigbleibsel von dieser Überlegung. Gleichzeitig ist „Person im Profil vor japanischer Tür“ eine gewisse Ikone, u.a. verwendet in „Kill Bill“.
Musikalisch deutet sich schon an, dass es nun um die Mutter geht.
Der Vater sagte zuvor „Ich bin Zengoro“, darauf antwortet jetzt im Schnitt die Mutter und sagt „Ich bin Okami“. Das Bild ist ein gutes Beispiel für „Auf der Lauer liegen.“ Von der Mutter habe ich kaum Bilder, da sie ständig überall und nirgends war. Ich wollte keine Bilder mit ihr stellen, also blieb mir nur ihr zu folgen und zu warten. Hier wurde mir gesagt, dass die Okami die Gäste begrüßt. Ich also hin und warten. Sie war die letzt im Raum, weil sie vorher noch sicher gehen wollte, dass draußen alles in Ordnung ist und die Schuhe alle ordentlich stehen. Notfalls justierte sie noch nach.
Ich habe so viel rohes Videomaterial, weil ich mir manchmal eine Einstellung aussuche und einfach draufhalte, in der Hoffnung es passiert etwas. Und hier ist sie mir sehr schön ins Bild gelaufen. Man hätte es nicht besser stellen können.
Sie spricht nun davon, dass sie als Okami wie eine Mutter für das Ryokan und die Arbeiter ist. Das greift den Begriff Familie noch mal schön auf und deutet gleichzeitig den Konflikt mit den Kindern an. Wenn meine Mutter die Mutter von vielen Kindern und Leuten ist, wie viel Zeit kann sie dann noch für mich haben?

Find übrigens toll wie sie das Mikro hält.

Hier habe ich versucht zu tricksen. Der Arm von Okami geht in beiden Bildern nach unten, der Schnitt nimmt die Bewegung auf. Allerdings verbeugen sich die Personen beim ersten Bild und beim zweiten sitzen sie aufrecht. Na fällt hoffentlich keinem auf…
Dazu habe ich wohl die meisten Anfragen bekommen: Was zur Hölle zuckt da? Es ist eine Muschel oder Auster, ich weiss es nicht mehr genau. Ich habe es auch nur kurz gekostet. Das war übrigens das allererste Bild, was ich im Houshi gedreht habe. Es war am Abend meiner Ankunft auf meinem Zimmer.
Da haben sich auch viele beschwert. „Was raucht die da!!!“
Ich liebe dieses Bild. Diese Ordnung, diese Symmetrie, aber auch diese langsame Geste, die Tür zu verschließen und vorher noch ganz sicher zu gehen, dass alles okay ist. Ich folgte der Okami nach draußen und sah, wie sie dort die drei großen Schiebetüren zuzog. Vor die letzte stellte ich mich mit der Kamera und wartete, bis sie ins Bild kommt. Ich hätte es gerne länger gezeigt, aber kurz vorm Schnitt schaut sie in die Kamera und bemerkt mich. Es passt auch super zur Aussage von Zengoro. Anders gesagt: Unsere Gäste können Party machen, wir müssen aber draussen bleiben. Wir können nicht immer machen was wir wollen. Und das führt dann in Konsequenz zu so einer Aussage:
Das ist mal ne Aussage… Ich konnts im Interview auch selbst kaum glauben, als ich das hörte. Ich dachte auch es kommt gleich etwas hinterher wie „Erzähl das bloß nicht meinen Eltern“ oder „Ah bitte lösch das wieder.“ Nein. Meine Vermutung ist auch, dass sie so einen Satz ihren Eltern auch mal gesagt haben wird – und sie natürlich trotzdem lieben kann. Im Gegensatz zu ihren Eltern trennt Hisae noch sehr stark Familie und Geschäft voneinander.
Diese Aussage hat ein enormes Gewicht. Daher setzt die Musik an dieser Stelle auch aus und anschließend gibt es einen harten Cut zu schwarz. Der erste Teil des Films ist vorbei. Etwaige Konflikte wurden bisher nur angedeutet, jetzt ist es komplett da.
Der Sonnenaufgang kennzeichnet den Übergang zu einem neuen Teil im. Das Sho setzt jetzt auch das erste Mal subtil ein. Das Bild ist zu schön um es nicht zu zeigen. Und ich will verdammt noch mal nicht umsonst so früh aufgestanden sein, das Bild musste rein!
Jetzt muss die Figur eingeführt werden. Wo kommt sie her und warum ist sie trotz der Aussage vorhin wieder hier? Die Szene mit den Shamisen habe ich schon beim Drehen dafür eingeplant, daher der Fokus auf Hisae.
Beim Schwenk sieht man dann auch eine zweite Figur im Dunkeln, die mit Hisae musiziert, aber wir wissen noch nicht wer.
Halbtotale und man erkennt die Situation. Mutter und Tochter spielen zusammen (und auch noch die Lehrerin, die singt, aber die sparen wir mal aus). Die ganze Szene war nicht einfach. Das Licht war furchtbar und die einzelnen Videos stammen von unterschiedlichen Liedern, die sie gespielt haben.
Jetzt Fokus auf die Mutter. Ich hatte schon beim Drehen den Schnitt im Kopf und wusste, dass ich an dieser Stelle in diesem Bild die Mutter über die Tochter erzählen lassen möchte.
Ich bin nicht so glücklich darüber von Gesicht auf Gesicht zu schneiden, aber hier ging es nicht anders. Und es ist euch aufgefallen? Es ist der letzte Auftritt der Mutter. Wir sind bei Minute 6 aber sie taucht im späteren Film nur noch im Bild auf, sie sagt nichts mehr.
Ich habs ganz gern wenn Bilder oder Aussagen sich im Film aufeinander beziehen. Hier ist es Zengoro. „Meine Frau macht was ich sage“ und „Meine Tochter darf mir sagen was ich zu tun habe“. Beschreibt somit alle drei Charaktere.
Eines der ersten Bilder, die ich von Hisae drehte. Sie wird durch die Komposition regelrecht vom Hotel erschlagen und wirkt so klein – was ich natürlich mit dem Bild erzählen wollte. Das Sho setzt hier auch wieder deutlich ein, nachdem es vorher nur subtil das Shamisen begleitet hat, welches die ganze Zeit spielte.
Erst beschreiben andere Leute, dann beschreibt Hisae sich selbst. Da gibt es durchaus einen spannenden Bruch. Visuell erzählt das Bild auch sehr viel. Von allen Charakteren sehen wir Hisae im Film in den meisten unterschiedlichen Aktionen und Outfits. Unterbewusst erzählt das einfach, wie viel Kram sie in diesem Hotel zu tun hat, ohne dass ich es aussprechen muss.

…und der Typ rechts schaut in die Kamera.

Die Maske…
…und wie sie fällt. In Interviews sind Pausen und Stille manchmal echt das stärkste.
Ich hätte jetzt gerne wieder zu Schwarz geschnitten, aber es hätte nicht ganz gepasst. Daher also dunkler Garten, das Nächstbeste.
Das Bild steht sehr lange. Zum Einen sind die Vögel wieder eine Metapher für die Un-/Freiheit der Tochter, zum Anderen würden Schnitte hier jetzt von ihren Aussagen ablenken. Diese Passage ist recht spät noch in den Film gekommen, bin aber ganz froh, dass sie drin ist. Es fügt zwar keinen neuen Konflikt hinzu, man lernt den bisherigen aber besser kennen.

Es gibt im gesamten Film vier Bilder, die länger als eine halbe Minute stehen. Das sind die Vögel (36 Sekunden, das Wasser zu Beginn (34 Sekunden), das Familienfoto (56 Sekunden) und das Wasser zum Schluss (36 Sekunden). Die Länge gibt dem Bild Gewicht, sie sind aber im Laufe des Filmes platziert sodass sie den Film nicht zu träge machen. Nach den Vögeln gehts auch mit schnellen Schnitten weiter.
Die Musik find ich hier genial. Das Sho (den Synthesizer) verbindet man mit Hisae und ihrer Anspannung. Damit gehen wir jetzt wieder in das Hotel rein, und nehmen Hisaes Anspannung mit. Anders gesagt, das Hotel, welches wir am Anfang als traditionelles, luxuriöses Hotel wahrgenommen haben, sehen wir jetzt, auch nachdem wir alles erfahren haben, durch die Augen von Hisae und bewerten es völlig neu.
Ich hatte eigentlich von jedem Gang ein Video und ein Foto gemacht. Allerdings habe ich die Höhe nicht immer gleichmäßig eingestellt. Die Gänge finde ich aber noch mal wichtig um die Größe abzuschätzen. Es gibt übrigens einen Rundgang durchs komplette Hotel, einmal durch sind so ca. 10 Minuten.
Blick auf die Wasseroberfläche um die Zukunft zu lesen. Viele Einflüsse verändern den Fluss des Wassers oder erzeugen Wirbel, man kann die Zukunft nicht erkennen. Sicherlich hilft da auch, dass ich den Fokus versaut habe, der liegt nämlich auf dem Fisch und nicht auf der Oberfläche.
Sagt er so nüchtern. In Kombination mit Hisaes Aussage gewinnt es aber noch an Brisanz. Die Musik setzt wieder aus, um die Aussage wirken zu lassen.
Durch den Schnitt deute ich an, dass der Bruder für die Familie geopfert wurde. Es beantwortet auch die Frage, warum Hisae überhaupt zurückgekommen ist.
Leider ist das Ansteckmikro im Bild, aber das macht eh jedes Mal Probleme. Daher habe ich das Richtmikro laufen lassen und leider zu spät gemerkt, dass direkt hinter ihr ein Kühlschrank rumort. Hisae spricht an sich schon sehr leise, und viel lauter konnte ich es nicht drehen, weil sonst der Kühlschrank auch lauter geworden wäre.
Sie macht nun die Arbeit vom Bruder. Achtet mal auf ihre Hand, wie sie sich an den eigenen Hals fasst, als ob sie die Schlinge spürt, die enger wird. Unterbewusst nimmt man sowas wahr.
Die Szene habe ich bei meinem zweiten Besuch gedreht, durch die reflektierende Wand. Hätte sie mich gesehen, wär sie gleich wieder aus dem Bild gesprungen, sofern sie gekonnt hätte. Ich hatte ihr das Bild anschließend gezeigt und sie meinte scherzhaft lächelnd sowas wie „Du Frechdachs!“
Die Musik hier empfand ich immer wie Tropfen, die auf einen Teich fallen und große Wellen schlagen. Oder wie Tränen.
Grüner Tee, Reis und eine Kerze, am Altar der Familie. Der Tod des Sohnes, den ich jetzt als Information vorstelle, hat für die Personen verschiedene Konsequenzen, jeder geht anders damit um. Hisae arbeitet, der Vater trauert alleine.
Ich habe lange überlegt, ob ich den Sohn zeige, habe mich dann aber doch dafür entschieden. Er schwebt irgendwie noch über den Leuten und beeinflusst die Geschichte der Houshi auch nach seinem Tod.
Diese Szene war übrigens nicht geplant. Wobei, geplant waren nur zwei: Friedhof und Shamisen, weil ich die Familie drum bat. Hier wollte ich mir eigentlich nur den Altar zeigen lassen, auf dem eine alte Buddha-Statue steht. Diese Statue ist nämlich der Beweis für die Langlebigkeit der Houshis, die auch vom Guinness Büro akzeptiert wurde. Als ich in den Raum komme, sehe ich aber das Foto vom Sohn und Vater Houshi machte die Kerze an.
Wieder so ein intimer Raum, das Beten für den Sohn, bei dem ich mit der Kamera dabei sein durfte, zu der er mich auch mehr oder weniger eingeladen hat. Mir scheint auch, der Vater bittet den Sohn heute irgendwie um Vergebung. Naomi meinte mal, dass Zengoro sehr häufig in Interviews mit Medien von seinem toten Sohn erzählt. Sie sagt, er benutzt die Geschichte um fürs Houshi Werbung zu mache. Und ich glaube, das stimmt auch. Aber wie gesagt, man muss das ganz anders bewerten. Geht es dem Geschäft gut, ist die Familie glücklich. So denkt Vater Houshi. Familienmitglieder sind Angestellte, die lange Geschichte ein Hilfsmittel, wie eine Anzeige in der Bahn. Er sieht das ganz unemotional, auch in Verbindung mit mir. Gleichzeitig trauert er natürlich auf seine Weise auch.
Mit einer Nahaufnahme/Detail kann man gut von einer Szene zur nächsten schneide. In der Reflketion der linken Schüssel sieht man übrgens mich (in weiss) mit Stativ…
Die Familie beim Friedhof. Es ist eine der wichtigsten und emotionalsten Szenen, finde ich. Achten wir nochmal kurz drauf, was Hisae sagt: „Mein Bruder hat hart gearbeitet um sich den Respekt meines Vaters zu erkämpfen. Aber er ist plötzlich gestorben.“ Der Vater sagt vorher „Ich habe mich oft mit meinen Sohn gestritten.“ Grund für den Streit war u.a. auch die Ehe des Sohnes, die zum ersten Mal nicht arrangiert war, und die nicht funktionierte. Also: Sohn streitet sich mit Vater, Sohn stirbt.
Daraufhin sagt Hisae, dass sie nicht weiß, wie es weiter geht. Der Vater weiss es schon, nur weiss sie das im Moment des Interviews noch nicht. Sie hat es erst durch mich erfahren. Ihre ehrliche Aussage verstärkt aber die große Auflösung am Ende des Films.

Das ist die letzte Interview-Einstellung im Film. Ich habe mir bei diesem Video vorher viele Gedanken gemacht, was ich mit dem Bild über das Bild erzählen kann. Oder anders gesagt, wie ich jedes visuelle Mittel ausschöpfen kann, um mehr zu erzählen. Der letzte Dreh vor Houshi war ein Interview für ein anderes Projekt. Die Einstellung dort war: Professor vor Bücherwand. Ich habs mir nachher angesehen und fands so dermaßen langweilig. In „Houshi“ wollte ich schon allein durch das Bild des Interviews etwas über die Person erzählen.
Vater Houshi sollte in der Mitte der zwei Linien sitzen. Da hat er sich leider rausbewegt. Das sein Gesicht im Halbdunkel ist, ist absolut beabsichtigt. Er sollte von der Mitte nach links schauen, nun schaut er von links nach links.
Mutter Houshi war für mich am Anfang eine Art Ruhepol in der Familie, die alles balanciert. Daher dieses Leuchten um ihren Kopf. Sie schaut von rechts nach links.
Die Tochter bekommt ein ganz anderes Setting. Schon von Beginn an sollte das Bild vermitteln: Mit ihr geht es anders weiter. Dunkles Holz statt japanischer Papierwände. Sie schaut von links nach rechts, um gleich von Beginn ihre kontrastierende Position zu zeigen. Alle Linien im Bild der Interviews führen zum Gesicht, welches gleichzeitig der hellste Punkt ist. Die Beleuchtung ist in jedem Fall ein Fenster. Ich hatte mir vor dem Dreh mal angeschaut, wie die Cinematographie in Pixar-Filmen gemacht ist und wie subtile Linien lenken können. Houshi war mein erster Versuch in die Richtung. Allerdings, hat sich der Vater aus den Linien rausbewegt. Das echte Leben kann man eben schlechter planen als einen Animationsfilm.
Für Hisae ist klar, wer der nächste Besitzer sein soll: Der tote Bruder. „Du bist der 47. Besitzer“ macht nur Sinn, weil Zengoro sich vorher als der 46. vorgestellt hat. Ich wusste schon beim Dreh, dass ich bei dieser Szene Hisae reden lassen möchte, daher liegt der Fokus auf ihr. Sie spricht quasi mit ihm an seinem Grab. Sie gibt ihm die Anerkennung, nach der er sich so sehr gesehnt hat.
Hier zeigt sich auch sehr schön, wie unterschiedlich Vater und Tochter mit dem Tod umgehen. Während Hisae sich noch tief verbeugt will Zengoro gleich weiter.
Der Sohn starb an einem Herzinfarkt. Er hat sich mehr oder weniger totgearbeitet um dem Vater zu gefallen. Man kann sagen, dass der Vater bzw. die Last der Familie Schuld am Tod ist. Das spricht natürlich keiner in der Familie aus, also kann ich es nur andeuten.
Dieses Bild ist der wichtigste Schnitt für mich im gesamten Film. Die Weihrauchkerzen für den Sohn sind noch nicht mal kalt, da spricht der Vater schon von der Geschäftsphilosophie. All die anderen Andeutungen zuvor steigern sich bis zu diesem Punkt.
Die Idee mit dem Familienfoto, und das als Video aufzunehmen, kam mir erst am Abend vorher. Ich hatte überlegt, mit welchen klassischen Bild kann ich spielen, eins das jeder kennt, mit dem ich aber etwas komplett neues und eigenes erzählen kann. Und je häufiger ich dieses Video sehe, was ja knapp eine Minute dauert, desto mehr Details fallen mir auf. (Abseits davon, dass ich die Füße abgeschnitten habe, weil ich auf den Foto-Ausschnitt (2:3) und nicht Video-Auschnitt (16:9) geachtet habe) Hier zeigt Zengoro subtil seiner Frau, wo sie zu stehen hat. „Sie macht was ich sage“
Dabei ging sie von sich aus schon nach rechts, wo ich sie platzieren wollte.
„Unsere junge Tochter ist die richtige“ sagen sie und lächeln in ihre Richtung. Sie erwarten freudig ihre Ankunft.
Sie kommt und schaut sich um, als wolle sie sagen: Dieses Ryokan und diese Bürde ist viel zu groß für mich.
Jetzt setzt das musikalische Thema vom Anfang wieder zur vollen Stärke an. Die Familie ist komplett, es geht weiter in die Zukunft. Hisae ist das fehlende Puzzlestück, sie füllt das Loch, welches der Bruder hinterlassen hat.
Sie klopft sich den Dreck von der Schürze („Ich bin noch nicht bereit dafür“) und stellt sich dann doch stolz hin. Der ganze Film, die ganze Dramatik, alle Charaktere und jeder Konflikt steckt in dieser einen, echten Szene. Gleichzeitig baut das Video eine Spannung auf, die ich nicht auflöse. Das fertige Foto zeige ich nie.
Dieses Foto stellt einen direkt Bezug zum alten Familienfoto im Garten her. Es gibt eine visuelle und inhaltliche Verknüpfung von heute zu damals. Früher waren es viele Mitglieder, das Hotel war stark. Jetzt sind es nur noch drei, das Hotel muss kämpfen. Das wird allein visuell erzählt.
Übrigens zählt die Familie noch eine Schwester und einen zweiten Bruder, der auch im Hotel arbeitet. Beide wollten nicht im Film auftauchen und für die Narrative finde ich es auch einfacher sich nur auf die drei Personen zu konzentrieren.
Das Schlusswort vom Vater. Ich verstehe das „Wir“ in dem Satz auch immer so, als „wir die Ahnen“ und „wir mit dem Bruder“ werden auf sie warten, bis sie bereit ist.
Der Film beginnt und endet mit Wasser. Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: ich habe es als Thema und Metapher benutzt, für Veränderung und Fluss der Zeit.
Als kleinen Bonus: Man sieht im letzten Bild zu jeder Zeit drei Wasserflöhe auf der Oberfläche – drei Familienmitglieder. Manchmal kommt ein vierter hinzu, aber verschwindet auch wieder aus dem Bild – der Bruder. Natürlich habe ich das nicht geplant. Aber es ist der Grund, warum genau dieses Bild von den 43 Aufnahmen von Wasseroberflächen hier am Fluss verwendet wurde. .


Und sind wir am Ende des Tages nicht auch nur Wasserflöhe, die versuchen nicht zu unterzugehen?

Naja.

Das war auf jeden Fall alles, was ich zu „Houshi“ zu sagen habe. Vielleicht kommt irgendwann später noch mal ein Teil über die Verwendung und Veröffentlichung der Geschichte. Bislang gibts da aber noch nichts zu erzählen.

Making of: Houshi, 2. Teil

Drei Monate später ging es erneut ins Houshi. Etwas sagte mir, dass ich an einer großen Geschichte arbeitete. Es brauchte nur noch etwas mehr…
Also noch einmal, mit Gefühl.

 



Hinweis: Wie schon in Teil 1 habe ich viele animierte Endlosschleifen eingebunden, die bei WordPress leider nicht automatisch abspielen. Also einfach anklicken und den Mauszeiger vom Bild nehmen.

Diesmal war alles ganz entspannt.
Von Hiroshima nahm ich den Tages-Bus nach Kyoto – den kann ich mittlerweile echt empfehlen. Es sind selten mehr als zehn Leute an Bord, man fährt entspannt durch den Sonnenschein und ist pünktlich zum Abendessen da. Ich hatte wie immer kein Zimmer gebucht, sondern übernachtete wie sonst auch im Internetcafé in der Nähe des Bahnhofs. Ich glaube, das musste dort jetzt schon das zehnte Mal gewesen sein. Vorher zog ich eine Weile durch die Stadt. Das Gepäck schloss ich im Bahnhof ein, am Körper hatte ich nur Zahnbürste, ein extra Shirt, die Kamera und einen Umschlag.

Mit Umschlag und Kamera lief ich zu einem Café am Fluss, das mir eine Freundin empfohlen hatte. Mit dabei waren die ausgedruckten und übersetzten Interviews der Familie Houshi. Fast drei Monate lagen nun schon zwischen dem ersten Dreh im April und heute. Die lange Zeit war super, um die Geschichte noch einmal zu reflektieren und neue Bildideen zu entwickeln. Beim ersten Besuch wusste ich noch nicht, wohin die Geschichte am Ende geht. Ich konnte in diesem Café in Kyoto gezielt planen, welche Motive ich noch brauche, um das Innenleben vom Haus und das der Bewohner visuell zu erzählen.

Als es dunkel wurde, begann ich den langen Marsch zum Internetcafé. Je später man kommt, desto billiger ist nämlich das Zimmer. Kommt man dann aber zu spät, ist kein Zimmer mehr da und es gibt nur noch Kapseln. Ein Tanz mit dem Feuer Komfort.

Ich kam kurz nach 22 Uhr an, also blieb nur noch die Kapsel: ein Loch aus Holzbrettern, knapp einen Meter breit, einen Meter hoch und 180 Centimeter tief. Am Boden keine Matratze sondern nur eine dünne Decke. Eine zweite diente als Bettzeug. An ein Kissen kann ich mich nicht erinnern, aber dafür war meine Tasche ja da. In die Koje schmiss ich den Umschlag – den ich wie ein Depp die ganze Zeit in der Hand tragen musste, weil er nicht in meine Tasche passte.
Am nächsten Morgen, den Umschlag wieder in der Hand, hatte ich noch etwas in Kyoto zu erledigen bevor es zum Houshi gehen konnte. Es sollte mein letzter Besuch in Kyoto sein. Ich traf noch eine Freundin, besuchte das Manga-Museum und lieferte endlich diesen dämlichen Umschlag ab.

Ich habe einen Monat zuvor hier nämlich meinen dritten Film in Japan gedreht, an dem ich zur Zeit in Hannover noch schneide.
Als Dankeschön für die Erlaubnis dort zu drehen, brachte ich dem Betrieb ein großes Foto der Mitarbeiter mit, welches ich in der Universität in Hiroshima selbst druckte. Das aktuellste Foto der Firma stammte aus den 90er Jahren, man freute sich also sehr, dass ich vorbei kam.

Bei der Verabschiedung:
„Ich fahre jetzt nach Ishikawa um dort meinen nächsten Film zu drehen“
-„Oh, da nimmst du bestimmt den Donnervogel-Schnellzug?“
„Ha….. nein…“

Mit der Bimmelbahn Regional-Bahn ging es langsam aber billig zurück zum Houshi. Der Wagen des Hotels wartete diesmal schon auf mich am Bahnhof.

Wieder war ich der einzige Gast um diese Uhrzeit. Aber etwas war anders. Statt einem Dutzend Angestellten in Kimono begrüßten mich nur Shou, der chinesische Angestellte, dazu die Rezeption und eine Dame in Uniform. Man gab mir den gleichen Raum wie drei Monate zuvor und auch Shou war wieder für mich zuständig. Ihm hatte ich auch einen kleinen Kuchen aus Hiroshima mitgebracht.

Tochter Hisae hatte inzwischen die Führung vom Hotel übernommen und es gab einige Änderungen. Das Essen wird jetzt nur noch gegen Aufpreis im Zimmer angerichtet, für die meisten Gäste gibt es den Speisesaal. Das spart Geld und die leeren Partyräume des Houshi werden endlich wieder einmal genutzt.
Jedes Zimmer hat nun nicht mehr nur einen Angestellten, sondern ein Bediensteter muss mehrere Räume abdecken. Die Mitarbeiter alternieren jetzt auch. Shou wäre eigentlich nur einen Tag für mich da gewesen, aber auf unser beider Wunsch hin machte man eine Ausnahme. Ich entdeckte in der Zeit noch viele kleine und größere Änderungen, die seit meinem letzten Besuch entstanden sind.

Vater Houshi begrüßte mich von der Familie als erstes. Er fragte mich, ob ich vorher schon mal in einem japanischen Gasthaus war. Tochter Hisae kam hinzu und ermahnte den Vater scherzend, dass ich doch schon einmal hier war und ein Interview mit ihnen machte. Wie Hisae anschließend mir unverblümt sagte, hatte ich etwas zugenommen und auch die Frisur war anders, aber daran lag es wohl nicht, dass Zengoro mich nicht erkannte.
Im Laufe der nächsten Tage sprach er mich auf viele Sachen von meinem ersten Besuch an, ganz vergessen hatte er mich also nicht. Er hat in seinem Leben sicher Hunderttausende Gäste begrüßt und verabschiedet. Da kann man im hohen Alter sicher auch mal durcheinander kommen.

Wenig später kam auch Naomi hinzu, die Übersetzerin. Diesmal mit dem kleinen Kind, welches bei meinem letzten Besuch nur krank war. Der Kleine war noch nicht mal 12 Monate alt, sah aber so kräftig aus wie ein Dreijähriger. Der Papa ist Europäer, daher ist dem Jungen manchmal ein „Dada“ rausgerutscht, als er mich sah. So viele Europäer gibt es in dem Ort nämlich nicht.
Ohne Scheu krabbelte und kletterte er durch das ganze Hotel und Naomi, dreifache Mutter, ließ ihn ohne Angst alleine. Für sie ist das Houshi auch eine Art Zuhause. Sie meinte, das gehöre zur Erziehung, die Kinder einfach mal den Freiraum zu lassen um selber auf die Nase zu fallen. Japanische Mütter sind da sonst viel beschützender, kritisiert sie.

Vater Houshi kam auch zu mir und Naomi hinzu. Er überreichte Naomi einen Umschlag mit Geld. Sie lehnte, wie es sich gehört, erst höflich ab, steckte es dann aber ein. „Für den Kleinen“ sagte Vater Houshi, dem man in diesem Moment auch den Opa abgenommen hätte.

Um Naomis Schulter hing eine Tasche von Louis-Vitton. Original. Darin bewahrt Naomi die frischen und vollen Windeln vom kleinen Kind auf. Die teure Marke ist ihr dabei, im wahrsten Sinne des Wortes, scheissegal. Sie brauchte einfach eine Tasche und ihre Tante schenkte ihr eine von einer Designermarke.
Ich denke, die Louis-Vitton-Windeltasche beschreibt Naomi als Mensch sehr gut.

Sie freute sich, mich zu sehen, und während Hisae vergnügt mit ihrem Kleinen spielte, unterhielten wir uns. Ich fragte auch sie, ob sie wie Hisae das Gefühl hat, dass ich zugenommen habe. Sie wüsste das nicht, aber sie hatte auch nicht so sehr auf mein Äußeres geachtet wie Hisae, sagt sie.

Ich kann bis heute nicht sagen, ob Hisae nun mit mir geflirtet hat, oder nicht. Ich bin meist recht blind für sowas, und Japanerinnen flirten eh anders. Aber bei jedem Besuch hat sie immer meine Nähe gesucht und bis zum heutigen Tage schickt sie mir regelmäßig Nachrichten und Fotos, wenn sie zum Beispiel einen teuren Kimono trägt oder Kuchen gebacken gekauft hat.
Ich denke sie sucht einfach eine Vertrauensperson.

Hisae ist kinderlos. Doch jedes Mal, wenn ich sie mit den Kindern von Naomi spielen sehe, blüht sie richtig auf. Ich denke sie wünscht sich auch Kinder, aber wie soll dafür Zeit bleiben, wenn man alleine das Erbe von 46. Generation retten muss.

Ich hatte eine lange Liste von Motiven, die ich noch mitnehmen wollte. Dazu gehörte auch die Küche, die mir Shou im Keller zeigte. Ich drehte jeden Topf, jede Flamme und das Sushi in der Zubereitung aus verschiedenen Perspektiven – und musste doch am Ende alles wegschmeissen. Als Profi muss ich natürlich sagen: es passte nicht mehr in den Film. Die Wahrheit ist aber, dass ich enorme technische Probleme mit dem Material hatte. Aber der Film vermisst die Küche auch nicht.

Die drei Monate, die ich physisch nicht im Houshi war, aber gedanklich schon, waren sehr wertvoll für mich. Auch der zweite Besuch jetzt, wo ich die Familie einige Zeit nach der folgenreichen Entscheidung traf, haben meinen Blick für die Geschichte geschärft.

Nach dem Interview dachte ich so, wie viele Zuschauer vom Film es manchmal in die Kommentare schreiben: Der Vater ist ein konservativer Macho, der seine Frau und Tochter quält. Die arme Tochter hat sich das nie ausgesucht!

Der räumliche Abstand gab mir aber eine Möglichkeit, einen Schritt zurück zu gehen. Wie bewerte und sehe ich denn diese Familie? Mit einem europäischen Blick. Diese Familie ist anders aufgewachsen, es ist selbst für Japan eine ganz andere Kultur. Wer bin ich denn mir zu erdreisten denen vorzuschreiben, was richtig und was falsch ist? Ihre Werte und Realität sind anders als meine. In der Welt der Houshi zählt die Familie alles. Als Außenstehnder das zu bewerten – das wäre einfach nur frech.

Ich hatte ein neues Verständnis für diese Menschen gewonnen, was ich so auch im Film erzählen konnte.


Eine 200-300 Jahre alte Schriftrolle von einem seiner Vorfahren, angefertigt für die Nachfahren: eine Art Handbuch zum Hotel und wie man ein Familiengeschäft führt. Zengoro war sich selber nicht mehr sicher, wie alt das Stück Papier jetzt genau ist.

Hisae war jetzt schon ein paar Monate in der Leitung des Ryokan – und sie machte ihren Job erstaunlich gut. Sie ist selbstsicher geworden, die Mitarbeiter respektieren sie und auch ihr Vater kann ihre Entscheidungen wortlos akzeptieren. Sie begann langsam eine Vision für die Zukunft zu entwickeln. Es sollen gezielt Touristen aus dem Ausland geworben werden und wir hatten lange Gespräche darüber, wie man das am besten macht.

Am zweiten Tag fragte mich Hisae, wie mir das Essen schmeckte. Köstlich wie immer, sagte ich, und sie war überrascht. „Wirklich?“
Hinter vorgehaltener Hand erzählte sie mir nämlich, dass sie seit April nicht mehr die superbesten Lebensmittel bestellen, um etwas Geld zu sparen. Ich schmeckte den Unterschied nicht, es war nach wie vor köstlich. Es gab zum Beispiel eine Rindersuppe aus Kansai, die mich am ersten Abend so sehr begeistert hat, dass sie extra für mich dann jeden Abend gereicht wurde.

Das Houshi stammt aus einer anderen Zeit.

So ein Satz ist eigentlich klar, aber man muss ihn trotzdem mal aufschreiben. Denn die Zeit, aus der das Hotel gefallen ist, ist nicht 718, als es gebaut wurde. Nicht die Meiji-Zeit (19.Jhd) als die jetzigen Gebäude entstanden sind. Nein, es steckt, wie viele Orte in Japan, gedanklich noch in der Bubble-Economy der 1980er Jahre, als alle irgendwie Geld hatten. Das Houshi ist zu luxuriös, als das es heute überleben kann. Die Kunden von damals existieren einfach nicht mehr.
Die allerfeinsten Zutaten nicht mehr zu bestellen ist da ein logischer, konsequenter Schritt, der fast zu spät kam.

Bei meinem ersten Besuch verwirrte mich am meisten die Bar und der gesamte hintere Teil des Hotels. Vorne wird man begrüßt mit alten Kunstwerken, einem 200 Jahre alten Gong oder der alten Deckenverzierung. Hinten jagt eine stilistische Verfehlung die nächste.

Da ist die Bar, die der verstorbene Sohn aufgemacht hat. Laut Hisae war es sein Lieblingsort im Hotel. Vielleicht weil es der einzige Raum war, den er in seiner Generation gestaltet hat. Alles andere war schon da.

Die Bar kann sich nicht entscheiden zwischen Art Deco und Art Nouveau, und beisst sich komplett mit dem Rest des Hotels.

Über der heissen Quelle, die Treppe hinauf, befindet sich neben einem potthässlichen Barock-Gemälde der große Partyraum, der durch seine Leere wie kein zweiter Raum im Houshi an die vergangene Zeit erinnert.

Mit einer Angestellten kletterte ich dann oben in den Technikraum, um einmal kurz für die Kamera die Lichter anzustellen. Wir mussten tatsächlich klettern, da es keine Treppe gab, nur eine angelehnte Leiter. Mit Kamera und Stativ war das nicht einfach. Oben lag eine dicke Staubschicht auf den Ton- und Lichtschaltern, in der Ecke ein alter Fernseher und Schallplatten mit Enka (japanischen Schlager). Die Angestellte konnte sich nicht erinnern, wann der Raum das letzte Mal für eine Party genutzt wurde.

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Zwischen Partyraum und Bar ist ein Wegweiser mit Fotos. Die vergilbten Bilder erinnern an die alte Zeit.


Tänzer aus den Philippinen, die eigentlich in der Küche arbeiteten. Hisae erinnerte sich im Interview wie sie früher als Kind die fremden Stimmen und exotischen Kleider gesehen hat.


Noch ein Stockwerk drüber ist der einzige Partyraum, der noch regelmäßig genutzt wird. Die Szene taucht auch im finalen Film auf. Die Gesellschaft hatte extra einen alten Schlagerstar engagiert. Bis Mitternacht konnte ich das quakige Enka den Gesang leise bis in mein Zimmer hören.

Die Gäste waren wenige in dieser Woche, da sich ein Taifun angekündigt hatte. Mehr als hundert Leute haben ihre Übernachtung storniert, aus Angst vor dem Taifun, der am Ende an Ishikawa komplett vorbei zog.
Mehr als hundert Ausfälle. Das tut am Ende des Monats sehr weh. Hisae resignierte nur „da kann man nichts machen“ und sie ließ sich keine negative Emotion anmerken.

So blieb die Karaoke-Bar offen, aber ohne Besucher. Die Songtexte liefen stumm auf der Maschine im leeren Raum.

Warum ist dieser Teil vom Hotel nicht im Film?

Ich habe lange mit mir gerungen. Zum einen zeigt es ein Hotel, dessen Blütezeit schon lange vorbei ist und seitdem nur noch als leere Hülle existiert. Gleichzeitig ist es ein integraler Bestandteil der Geschichte. Auch das Scheitern gehört zu dieser Familie.

Schlussendlich habe ich es rausgelassen, weil es den Zuschauer sicher so sehr verwirrt hätte, wie mich damals, als ich es gesehen habe. Ist das noch das alte Hotel Houshi? Wo sind wir hier? Was soll diese nackte Frau aus Stein?
Es hätte zu sehr von der eigentlichen Geschichte abgelenkt.

Der Dreh war diesmal entspannter. Ich sammelte weniger Bilder, dafür aber gezielt. Ich plante mehr Pausen ein und besuchte ab und an Naomi in ihrer Bäckerei. Früh aufstehen musste ich aber trotzdem jeden Tag. Insbesondere am Dienstag. Denn da spielte Deutschland gegen Brasilien in der Weltmeisterschaft. Wir erinnern uns alle gerne an das unfassbare 7:1.
Ich glaube, ich habe an diesem Morgen das halbe Ryokan aufgeweckt. Um es etwas zu dämpfen, schrie ich schon in das Kissen von meinem Futon, aber später am Vormittag entschuldigte ich mich trotzdem bei der Rezeption. Die meinten nur: Ach, Deutschland hat so gut gespielt, du hättest ruhig lauter brüllen können!
Im Laufe des Tages sprach mich auch das halbe Hotel drauf an. Gut gespielt! Verdienter Sieg! Glückwünsch! Dabei stand ich nur auf dem Futon und nicht auf dem Rasen.

Stellvertretend nahm ich die Glückwunsche aber an.

Vater Houshi erzählte mir im Interview und auch jetzt wieder vom Schrein Natadera, der eng verbunden ist mit dem Hotel und der Familie. Ich habe lange überlegt, ob mir die Bilder von dort was bringen würden, entschied mich dann aber dagegen. Naomi sagte mir dann aber direkt, dass es Zengoro Houshi sehr begrüßen würde, wenn ich ihn zum Natadera begleite. Ich hatte verstanden.

Mutter, Vater, Tochter, Naomi und ich sind zunächst zum Grab der Familie gefahren. Die Japaner gingen nach der Zeremonie bereits zum Auto, ich brauchte noch ein paar Bilder. Fünf Minuten später verließ ich den Friedhof – doch beide Autos waren weg. Es fing leicht an zu tröpfeln und mein Handy lag im Hotelzimmer. Man hatte mich vergessen.

Eine Viertelstunde später stand Naomi vor mir. Sie hatte gedacht, ich sei mit den Houshis mitgefahren. Die Houshis dachten, ich sitze bei Naomi im Auto. Als alle dann im Natadera angekommen waren, fragten sie sich „Wo ist Fritz?“

Naomi entschuldigte sich die ganze Fahrt bis zum Schrein. Vor dem Eingang wartete die Familie schon auf mich. Hisae bekam einen Anruf vom Hotel und musste schnell wieder zurück. Sie war ja nun Chef. Vater Houshi rezitierte derweil ein Haiku über Natadera.

Der Tempel ist schon beeindruckend, aber die Kamera machte ich kaum an. Vater Houshi meinte zwar, dass die Anlagen viel schöner als das Hotel seien, aber ich wollte ja nicht die Geschichte vom Natadera erzählen.

Mit Naomi hetzte ich kurz nach oben, in eine heilige Felsspalte, die einen von Sünden befreien kann, während Herr und Frau Houshi unten den japanischen Garten betrachteten.

Je länger ich im Houshi blieb, desto weniger Bilder brauchte ich. Es wiederholte sich viel, das meiste hatte ich schon. Nur eine Übersicht von einem Haus in der Umgebung fehlte mir noch.
Ausgerechnet an dem bislang heissesten Tag des Jahres kletterte ich also auf ein Hotel in der Nachbarschaft.

Im Ort gibt es viele Hotels, Ryokan oder Onsen. Und viele Ruinen. Das Ende der Bubble-Economy haben nicht alle verkraftet. Keine fünf Meter vom Houshi befinden sich drei leere Gasthäuser. Es ist dem Houshi hoch anzurechnen, dass es sich mehr als tausend Jahre gegen Taifune, Kriege und wirtschaftliche Talfahrten behaupten konnte.

Frühstück und Abendessen wurden stets im neuen Speisesaal serviert. Dabei wird man aber immer noch vom Personal angestarrt. Beim ersten Abend lag an meinem Platz eine Gabel und ein Messer, statt Essstäbchen. Man wollte höflich sein, da man vom doofen Ausländer fremden Europäer ja nicht erwarten kann, dass er mit Stäbchen hantieren kann, wie normale, kultivierte Menschen Japaner. Problem ist nur, dass japanisches Essen nicht dafür gedacht ist, mit Besteck aus Metall gegessen zu werden.

Die alten, löchrigen Vorhänge im Saal erinnerten noch daran, dass dieser Raum selten genutzt wird. Die Angestellten standen am anderen Ende des Zimmers, beim Reiskocher und dem Grünen Tee. In formvollendeten Japanisch bat ich eine von ihnen mir doch Essstäbchen zu bringen. Sie schaute nur besorgt. „Bist du sicher?“
Ich kannte ihren Namen nicht, nannte sie aber in Gedanken immer Kuh-san. An dem Gesteck in ihrem Haaren, sowie an ihrem Kimono befand sich neben anderen Kinkerlitzchen eine kleine Figur einer schwarz-weißen Kuh.

Frau Kuh brachte mir zögerlich die Stäbchen und fragte, ob ich nun den Reis möchte. Dabei machte sie mit der Hand eine Bewegung Richtung Mund, die essen darstellen sollten. Verstehst du, Fremder? Essen?

Am letzten Tag packte ich zufrieden wieder ein. Die Kamera und ein extra Shirt wieder in der kleinen Tasche, den Rest im Rucksack. Als letzte Aktion im Houshi machte ich von jedem Mitglied der Familie noch ein Portrait. Hisae war am schwierigsten.

Nach jedem dritten Foto überprüfte sie Make-Up und Haare. Ihre Haltung war angespannt und sie traute sich kaum zu lächeln. Sobald die Kamera weg war, scherzte sie und lachte frei. Doch für die Linse traute sie sich nicht. Vielleicht weil sie das Gefühl hatte, als 47. Generation und erste weibliche Besitzerin; als Chefin des 1.300 Jahre alten Ryokan eine gewisse Würde vermitteln zu müssen.
Eine Stunde später bat sie mich, die Fotos noch einmal zu wiederholen, da sie sehr unsicher mit dem Ergebnis war. Es brauchte erst die Bestätigung von Naomi, einer Angestellten und von mir, dass das Foto wirklich gut ist. Dann gab sie Ruhe.

Wieder brachte sie mich mit Mutter und Hund zum Bahnhof und ging erst, als ich im Zug saß.

Ich hatte noch kurz überlegt, nach Gifu zu fahren, um Miki zu besuchen. Aber finanziell war es einfach nicht mehr drin. In knapp einen Monat fahre ich wieder zurück nach Deutschland und ich musste vorher noch einen weiteren Film abdrehen. Mit dem Regionalzug ging es zurück nach Kyoto und von dort dann aber direkt nach Hiroshima mit dem Shinkansen. Das war zwar teuer, aber alle anderen Optionen hätte mich mindestens auch noch eine Übernachtung gekostet. Und nochmal Holzloch wollte ich nicht, nach drei Tagen Luxus.

Im nächsten Teil dann der Hintergrund zum Schnitt vom fertigen Film.

Making of: Houshi, 1. Teil

1,300 Jahre Geschichte, 46 Generationen, sechs Drehtage und knapp 1.000 Euro Budget. Die Arbeit an dem Film brachte mich an die Grenze meine körperlichen und mentalen Belastbarkeit.
Mehr Szenen und Bilder aus, sowie die Geschichte hinter „Houshi“


Hinweis: In diesem Eintrag zeige ich neben den Fotos auch animierte Sequenzen. Die kurzen Videos müssen einmal kurz angeklickt werden, laufen dann aber in einer Endlosschleife. Bewegt man den Mauszeiger vom Clip weg, ist die Illusion perfekt.

Gedreht hatte ich „Houshi“ erst 2014. Gehört hatte ich von dem alten Hotel aber schon 2012. Wie die Puppen landete es auf meiner Liste von „Themen, die man mal machen könnte, wenn Geld und Zeit da sind“. Diese Liste ist zwar nicht so lang, wie man denken könnte, aber es sind auf jeden Fall viele Geschichten dabei. Ich denke es ist auch ein guter Filter, wenn ein Thema in der Liste ist, aber trotzdem noch Jahre später mein Interesse wecken kann. Das zeigt nur, dass die Geschichte stark ist.

November 2013
Die Puppen waren abgedreht und ich war wieder in Hiroshima. Damals hatte ich noch keinen eigenen Arbeitsraum und hing daher ständig bei Miki und Tomomi im CAT rum. Ein sehr entspanntes Zimmer, mit einer kleinen aber ausführlichen Bibliothek und Blick auf den Wald hinter der Uni. Manchmal konnte man Wildschweine sehen.

Miki und Tomomi waren beide zuvor ein Jahr in Hannover und wir halfen uns immer gegenseitig beim Lernen der Sprache des jeweils anderen. Beide konnten auch meine Emails Korrektur lesen, wenn ich wieder eine Anfrage schreiben musste.

Mit den Puppen abgedreht aber noch nicht geschnitten überlegte ich, welche Geschichte folgen kann. Ich bin mit vier Themen nach Hiroshima gekommen, eine war also schon fertig. Eine Geschichte fiel ins Wasser, weil ich keine Erlaubnis bekommen konnte. Eine andere wurde immer größer je mehr ich recherchierte. Und das letzte Thema verschob ich auf mehreren Monate. Also fing ich mit einer neuen Geschichte an. Houshi.

Ich wollte unbedingt den Winter nutzen um ein Hotel zu zeigen, dass seit Jahrhunderten wie in der Zeit festgefroren war. Die Zeit drängte also.

Meine erste Anfrage auf Englisch wurde ignoriert. Meine zweite Email auf Japanisch, die Miki mit viel Seufzen und Kopfschütteln korrigierte, kam durch. Man war bereit für einen Dreh. Meine Hoffnung, dass sie mir die Zimmerpreise erlassen, wurde leider nicht erfüllt. Aber die Familienmitglieder würden mir alle Interviews geben, die ich führen möchte.
Es ging dann noch eine Weile hin und her, Termine wurde verschoben oder kurzfristig abgesagt. Inzwischen tippte Miki komplett alle Mails für mich. Ich wollte sie als Übersetzerin eh mit ins Hotel nehmen und ihre Augen funkelten bei dem Gedanken an ein Onsen.

(Hiroshima ist zwar durchaus eine lebenswerte Stadt, aber mit heissen Quellen ist es wahrlich nicht gesegnet)

Irgendwann im Januar kam auf einmal eine Mail auf Englisch zurück. Sie stammte von Naomi.
Naomi arbeitet zwar nicht direkt fürs Houshi, übersetzt aber immer Mails mit Anfragen aus dem Ausland. Wie ich später erfahren sollte, hat Naomi drei Kinder, ein eigenes Geschäft und studiert noch nebenbei. Naomis Antworten kamen also immer schleppend.
Der Schnee schmolz wieder, aber noch kein Bild im Kasten.

Der Turning Point
Februar 2014 war eine entscheidene Zeit für mich in Japan. Mein Stipendium lief aus und es sah lange Zeit so aus, als würde es nicht verlängert werden. Mein Visum war zwar noch lange gültig und auch die Uni erlaubte es mir, zu bleiben. Doch das Geld wurde langsam knapp. Neben Houshi hatte ich ja noch andere Geschichte, die ich gerne machen würde. Doch leisten konnte ich sie mir nicht mehr. Selbst die 50 Euro Miete im Studentenwohnheim waren nicht gesichert.

Ende Februar kam dann die Nachricht. Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern. Der Himmel war wolkig, aber es sah nicht nach Regen aus. Google hatte mir die Tage zuvor immer vom Regen erzählt, also schleppte ich stets einen Schirm mit. Diesmal verzichtete ich drauf.
Kaum stand ich an der Bushaltestelle, ging es los. Wolkenbruch. Aber heftig. Ich fror im nassen Wind und wurde klatschnass. Ein junger Mann hatte Mitleid mit mir und bot mir seinen Schirm an.

In der Stadt saß ich dann wenig später im San Marco in der Hondori, einer Art Starbucks in Japan. Hier war ich jede Woche und arbeitete, wenn die Uni geschlossen war oder ich mal einen Ortswechsel brauchte. Ich hatte den Rechner aufgebaut und schnitt am Video zu den Puppen. Die Hose war immer noch nass. Am Abend dann die Email. Meine Bewerbung wurde bewilligt, das Stipendium verlängert. Ab jetzt noch einmal 1.000 Euro pro Monat bis August!

Diese neue Möglichkeit brachte auch eine Verantwortung mit sich. Ich würde fortan an mein Geld nur noch in meine Filme stecken und ansonsten sparen wo ich kann. Bis August waren es noch sechs Monate. Wenn ich alle Geschichten schaffen möchte, muss ich meine Zeit und mein Budget straff einteilen.

Mein Professor in Hiroshima freute sich auch über mein Stipendium und fragte gleich, was ich damit vorhabe. Ich erzählte ihm von meinen Projekten und er bat mich, die mal der ganzen Fakultät vorzustellen. Auf Japanisch.

Einige Wochen später hing dann dieser Aushang überall in der Universität.


Der hing da sogar bis September, als ich ging

April bis August 2014 war die intensivste, spannendste, anstrengendste, aber auch erfüllendste Zeit, die ich je erlebt habe. Ich arbeitete an drei Filmen, gleichzeitig und parallel, 10 bis 12 Stunden jeden Tag. War ich nicht unterwegs und drehte, bereitete ich Drehtermine vor oder sichtete Material. Nach langen Einreden auf meinen Professor bekam ich nun auch endlich einen Ausweis, um auch am Wochenende die Uni zu betreten. Den Arbeitsraum für Austauschstudenten, der zuvor nur Abstelllager war, räumte ich auf und richtete ihn ein. Ich machte ein kleines Kino daraus, wo wir Austauschstudenten fremde Filme schauten. Es gab nie eine produktivere Zeit in meinem Leben.

Da ich aber immer in mehreren Projekten gleichzeitig denken musste, war die Zeit auch teilweise sehr anstrengend. Ich war oft müde und schlief schlecht. Ich fing damals an, zu Mitternacht, wenn die Arbeit beendet war, den Berg rauf und runter zu joggen. Das half. Und es half natürlich auch die Projekte abzuschließen.
Erster Dreh und erstes Projekt war Houshi. Drehtermin: Anfang April 2014.

Bei Miki, die ich eigentlich mitnehmen wollte, gab es auch eine große Veränderung. Sie war fertig mit der Uni und wechselte für ihren Master ins 400km entfernte Gifu. Ihr letzter Tag in Hiroshima war der Abend bevor ich zum Houshi aufbrechen sollte. Die Präfektur Gifu liegt zwar direkt neben Ishikawa, wo das Houshi Ryokan sich befindet, aber sie kam leider nicht mit mir. Den letzten Abend wollten wir aber noch zusammen verbringen. Auch gerade deswegen, weil sie vorher mir noch die Fragen für die Familie übersetzen wollte.

Vor ihrem Haus parkte ein großer silberner Umzugswagen mit einer schwarzen Katze drauf. Miki ist DJ und ihre ganzen Platten, die teilweise aus Deutschland stammten, mussten nun irgendwie nach Gifu. Gegen 22 Uhr war der Wagen voll, die Wohnung aber noch nicht leer. Hilft halt nix, sagte sie, und bestellte den Laster nochmal für die nächste Woche.

Miki wohnte in einem alten japanischen Haus auf der anderen Seite der Hügelkette auf dem die Universität gebaut war. Es fuhr dort keine Bahn, das machte die Miete billig. Mein Taxi von der Uni brauchte 30 Euro bis es bei ihr war.

Selbst im April kroch die Kälte an diesem Abend in die Reismatten. Miki machte mir den Heiztisch an und ging in die Küche. Pommes machen. Seit ihrer Zeit in Deutschland steht sie tierisch auf Pommes. Zu ihrem Abschied schenkten wir ihr auch eine kleine Fritöse, für ihr Zimmer im Studentenwohnheim in Gifu. Die stand jetzt noch in der Verpackung in ihrem halbleeren Zimmer, weil es nicht mehr in den Laster passte.

„Fritz, ich kann den Sake nicht mitnehmen. Den müssen wir heute trinken!“

Der Abend mit Pommes und Sake war tatsächlich sehr lustig. Wir haben die halbe Nacht übersetzt und Aufzeichnungen von japanischen Popsternchen geschaut. Miki konnte stets mittanzen und -singen, ich schlief irgendwann mal gegen 4 Uhr erschöpft ein.
Wir beide mussten am nächsten Morgen den Zug Richtung Osten erwischen. Unsere Wege trennten sich am Hauptbahnhof Hiroshima. Sie nahm den schnellen Shinkansen, ich die langsamen und billigen Regionalzüge. Keine zwei Stunden später war Miki schon in Gifu, ich war erst am nächsten Tag in Ishikawa. Die Nacht verbrachte ich im Internetcafé in Kyoto.

Ankunft in Awazu
„Hallo, hier ist Journalist Fritz Schumann. Sie erwarten mich.“ Wie vorher abgesprochen sollte ich anrufen, wenn ich am Bahnhof ankomme. In der einen Hand jonglierte ich das Handy, in der anderen die Kameratasche. Bei meinem ersten Anruf in holprigen Japanisch wurde gleich aufgelegt. Bei meinem zweiten Anruf bot man mir jemanden an, der Englisch kann. Der konnte jedoch nur „Herro?“ und das wars. Jetzt legte ich auf. Beim dritten Anruf sagte ich einfach nur „Hallo, ich bin Gast bei Ihnen, können sie mich abholen?“. Das klappte.

Eine halbe Stunde später stand ein älterer Herr mit Brille vor mir. Das Logo auf seiner Schürze erkannte ich. Ich zeigte auf seinen Schritt, vor dem die Schriftzeichen aufgedruckt waren, und fragte „Houshi?“ Er nickte wortlos.
Im Auto war er wenig gesprächig und konnte nur allgemeine Phrasen zu Bergen und Baseballstadien der Umgebung loswerden.


Ein spezieller grüner Tee, der sehr bitter ist, wird zur Begrüßung gereicht, während die Angestellten das Gepäck aufs Zimmer bringen.

Es war 14 Uhr als ich verschwitzt die große Eingangshalle betrat. Unisono begrüßten mich ein Dutzend weibliche Angestellte im Kimono. Und zwar nur mich, ich war der einzige Gast um diese Uhrzeit.
Erst jetzt wurde mir klar, was für ein Luxushotel das Houshi sein musste. Das ich Journalist bin und hier einen Film mache, wusste keiner der Angestellten. In meinem ungebügelten Shirt und den ungekämmten Haaren machte ich auch sicher nicht den Eindruck eines Profis.

Ich war alleine, Ausländer und unter 50 – solche Gäste gibt es im Houshi mehr als selten. Aber man lächelte und stellte eine deutsche Flagge auf den Tresen.

Bevor ich mit der Familie reden konnte, nahm mich einer der Manager beiseite. Er wollte noch einmal von mir hören, was ich denn genau hier vorhabe. Etwas aufdringlich bat er mich, doch alle Fotos, die jetzt hier entstehen, dem Houshi kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Ich stimmte erstmal zu, ohne dass ich mich auf diesen Deal einlassen wollte.

Shou, einer der drei chinesischen Angestellten, brachte mich zu meinem Zimmer. Er hatte mehr als nur einen Namen, aber Shou war der einzige, den ich sagen konnte. „Den Namen benutze ich für die Japaner. Ist einfacher auszusprechen.“ sagte er mir.
Mein Zimmer war eines von denen, die 300 Euro die Nacht kosten. Shou war für die nächsten drei Tage allein für mich zuständig. Das gehört dazu, wenn man das Zimmer bucht.

Der Raum war kleiner als ich dachte. Aber ich hatte schon schäbiger gewohnt. Und größer als ein Zimmer in Tokyo ist es alle mal. Dann ging Shou an mir vorbei und schob die Wand auf. Ich befand mich erst im Vorraum, das eigentliche Zimmer, mit Blick auf den Garten, war dahinter.
Ich habe nie teurer gewohnt.

Ich schmiss Rucksack, Kamera und Kabel auf den Boden und brauchte erstmal eine Dusche. Shou meinte, ich solle doch lieber direkt in die heisse Quelle springen. Auch in meinem Zimmer kommt das Wasser der Quelle aus dem Hahn. Er fragte mich noch, wann ich denn speisen möchte, was ich zunächst aber nicht verstand. Er benutzte ein sehr altes, höfliches Wort für Abendmahl, was ich nicht kannte. Erst als er es simpler formulierte „Wann willste essen?“ konnte ich ihm 18 Uhr sagen und endlich duschen.

Die Interviews waren erst am nächsten Morgen. Vorher konnte ich nicht viel machen und nahm mir die Zeit, das Hotel erstmal auf mich wirken zu lassen. Die Größe, die Geschichte, die Preisklasse – all das realisierte ich erst jetzt. Ich wusste gar nicht, wo ich mit der Kamera anfangen sollte. Wie sollte ich alleine die 1,300 Jahre einfangen?

Doch vorher erstmal essen.

In dieser Preisklasse wird das Essen vom eigenen Butler Angestellten auf das Zimmer gebracht. Sein Zimmer, in dem er das Essen vorbereitet, liegt direkt auf dem Flur gegenüber. Von dort bring er die Schüsseln, Teller, Fäßchen mit Spezialitäten. Alles köstlich.
Normalerweise sind zwei oder mehr Gäste beim Essen im Zimmer. Ich war alleine. Der Angestellte ist dazu verpflichtet, beim Essen im Zimmer zu bleiben. Er sitzt neben dem Tisch und beobachtet. Die Idee ist, dass er bei der kleinsten Unzufriedenheit, oder wenn Reis, Wein, Wasser fehlen sollte, sofort eingreifen kann, bevor der Gast auch nur die Chance hat einen Wunsch zu äußern. Eine extreme Form der Höflichkeit.

Da saß ich nun also, irgendwo in Ishikawa, vor meinem 300 Euro Zimmer tanzen die Koi-Karpfen im 400 Jahre alten Garten und ein Chinese guckt mir beim Essen zu. Ihm war das nicht annährend so unangenehm wie mir. Ich fing also an, mit ihm zu plaudern. Was sollte ich auch anderes tun.

Shou ist so alt wie ich und seit einem Jahr im Houshi. Ihm gefällt es ganz gut, auch wenn die Arbeit manchmal anstrengend ist. Ein paar Brocken Englisch kann er auch, die er aber wohl in amerikanischen Filmen gelernt haben musste. Manchmal begrüßte er mich im Hotel mit „Howdy Fritz“.
Ein chinesischer Cowboy im japanischen Hinterland.

Das Abendmahl ging eine Stunde und er hörte nicht auf immer wieder neues Essen zu bringen. Irgendwann schmiss ich ihn dann höflich raus, schaute mir noch die neue Folge von Game of Thrones an und ging früh ins Bett. Am nächsten Tag wollte ich als erstes den Sonnenaufgang vom Hoteldach filmen.

5 Uhr früh, übermüdet und im Halbdunkel schälte ich mich aus dem Futon. Ich sammelte die Kamera vom Boden auf und bereitete den langen Tag vor. Eine Liste der Motive war verstaut neben dem Teleobjektiv. Mit einer Dose CC Lemon ging es aufs Dach.

Es war frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen machten es ganz angenehm. Nebenan auf einer uralten Baumkrone hockte eine ganze Schar von Vögeln.

Die Sonne beeilte sich dankenswerter Weise und ich konnte schnell runter zum Frühstück. Shou hatte schon alles aufgebaut. Da ich echt kein Morgenmensch bin, bat ich ihn, mich alleine zu lassen. Das Frühstück war weniger ausführlich als das Abendmahl, also akzeptierte er meine Entscheidung. Er fügte noch hinzu, dass er sofort kommen würde, wenn ich einen Wunsch habe.

Naomi, die mir auf Englisch die Emails schickte, bot an, die Interviews zu übersetzen. Ihr kleinster war krank, also kam sie später. Papa und Mama Houshi begrüßten mich und wir gingen zusammen in einen Raum nahe des Garten. Der Lieblingsraum von Zengoro.

Das Interview verlief etwas kompliziert. Naomi redete häufig über die Aufnahme drüber oder unterbrach die Interviewpartner. Es dauerte eine Weile, bis sie meine Arbeitsweise verstanden hatte. Aber sie übersetzte sehr gut. Sie ist quasi auch im Houshi aufgewachsen, geboren ist sie im gleichen Ort. Sie war aber viel im Ausland, spricht vier Sprachen fließend und ihr Mann ist halb Däne, halb Franzose. Zuhause sprechen sie Spanisch.

Zengoro Houshi und sie hatten schon ein gutes Vertrauensverhältnis, von dem ich jetzt profitierte. Er war sehr ehrlich in seinen Aussagen und beantwortete jede Frage eloquent. Nur die Fragen nach der finanziellen Situation des Hotels und ob er je daran gedacht hatte, es zu verkaufen, ignorierte er. „Diese Frage ist nicht würdig einer Antwort.“

Vor der Tür warteten seine Frau und seine Tochter schon. Vater Houshi redete länger als erwartet, also waren die beiden ungeduldig.

Das Interview mit der Mutter verlief nicht sehr gut. Ich merkte schnell, dass sie sich schon sehr früh mit ihrem Leben und ihrer Situation abgefunden hat. Den Wunsch nach mehr hat sie lange schon aufgegeben. Sie hat immer nur das gemacht, was ihr gesagt wurde, und so reflektierte sie auch kaum ihr Leben oder eigene Entscheidungen. Antwort war immer „So wurde es erwartet“ oder „So ist das halt.“ Nichts was ich wirklich als Tonschnipsel nutzen konnte. Zudem schaute sie ständig in die Kamera, obwohl ich sie stets darauf hinwies es nicht zu tun.
Vater Houshi redete anderthalb Stunden, die Mutter nur 17 Minuten.

Dann kam die Tochter.

Sie ist das Herz des Films. Naomi und die Tochter hatten sich vorher nie getroffen, obwohl sie die Familie Houshi eng kannte.
Für die Tochter Hisae war das Interview eine willkommene Möglichkeit, sich einiges von der Seele zu sprechen. Sie hat kein Ventil, keinen mit dem sie offen und ehrlich reden kann. Das merkte ich im Interview. Sie weinte auch mehr als einmal, aber ich entschied mich dazu, das nicht im finalen Film zu zeigen.

Die Tochter wird nie wieder so ein Interview geben, so viel ist sicher. Sie vermeidet auch die Kamera, wo es nur geht. Doch der Patriarch sagte ihr „wir machen das jetzt.“

Der erstgeborene Sohn ist verstorben und sie soll übernehmen. Der zentrale Konflikt in der Geschichte und in der Familie. Ich habe davon erst an diesem Tag erfahren, ich wusste es nicht, als ich zum Houshi aufgebrochen bin. Also frage ich im Interview die Tochter, was sie dazu denkt, dass sie das Hotel übernehmen soll.

Sie wusste von dieser Entscheidung nicht.

Der Vater sagte es ihr vorher nie, sie erfuhr es von mir im Interview, dass sie die nächste in der 1,300 Jahre alten Familien-Linie sein soll. Dass sie die erste weibliche Besitzerin in 46 Generation sein soll. Dass sie die Zukunft ist.

Sie war sehr verwirrt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber ihre Antworten waren ehrlich und unverfälscht. Eine einzigartiger Moment in der Geschichte der Familie. Und ich war dabei.

Nach dem Interview ließ der Patriarch ein paar Schüsseln Nudelsuppe kommen. Ich saß bei Naomi und Tochter Hisae, Mutter und Vater Houshi saßen an einem eigenen Tisch.
Ich musste an einen Sketch von Harald Schmidt denken, der mal von einer Beobachtung im Zug erzählte. Ein Paar, seit mehreren Jahrzehnten verheiratet, sitzt im Zug und isst mitgebrachte Brote. Sie pellt ihm ein Ei. Harald Schmidt sagte: „Sie pellte ihm ein Ei, wie man nur jemanden nach 30 Jahren Ehe ein Ei pellen kann.“ Wortlos und mechanisch.
So saßen Mutter und Vater Houshi nun auch am Tisch und schlürften ihre Suppe. Mehr als 50 Jahre verheiratet, schauten beide wortlos aus dem Fenster, auf die alte Theaterbühne, die heute nur noch einmal im Jahr bespielt wird.

Wir gingen raus und machten das Familienfoto. Die Idee, das ganze als Video aufzunehmen, kam mir erst am Abend zuvor.
Tochter Hisae war froh, nun nicht mehr vor die Kamera zu müssen und Mutter Houshi zeigte mir das älteste Gebäude im Hotel. Ihr ganzer Stolz.

Die Nacht für ungefähr 600 Euro aufwärts.

Im gesamten Hotel finden sich häufig Darstellungen von Vögeln. Direkt nebenan gab es ja wie gesagt eine Baumkrone voll davon. Ich wollte daraus eine Metapher basteln, die Vögel für die Freiheit bzw. Unfreiheit der Tochter. Hat sich aber doch nicht ergeben. Aber dafür habe ich viele Vögel-Bilder.


Tür vom Aufzug

Naomi erhielt nach dem Interview aufgeregte Anrufe ihrer Mutter. Ihr Kind war noch krank bei der Oma und sollte schon längst abgeholt sein. Weil sie meine Arbeit und die Interviews aber so spannend fand, hing sie noch etwas Zeit ran. Eigentlich wollte sie nur zwei Stunden für mich übersetzen, aber da wir uns gut verstanden, machte sie eine Ausnahme. Ich bezahlte ihr nichts für die Arbeit, war also froh über die Unterstützung.

Tochter Hisae erzählte mir von der ältesten Mitarbeiterin. Die würde ich gern mal treffen, sagte ich ihr, und sie zeigte mir einen alten Nebenraum.

Die alte Dame ist über 80 und arbeitet seit fast 60 Jahren im Houshi. Jetzt näht sie die alten Futons und Kissen wieder zusammen, sechs Stunden jeden Tag. Sie erzählt, dass dieses Zimmer früher für die Geishas war. Es hat einen eigenen Eingang und führt durch den Flur direkt zu den Zimmern der Gäste (einige Geishas boten früher auch andere Dienste an).

Das Zimmer wirkte älter als der Rest vom Hotel. Mein Professor und auch Miki gaben mir zuvor in Hiroshima den Hinweis: Alte Reismatten, auf denen man die Spuren vom Leben erkennen kann, gelten als erfahren und schön.
Ich hielt im ganzen Hotel danach Ausschau, fand es aber nur hier.
Die Kälte zog durch die alte, offene Schiebetür nun auch in dieses Zimmer. In Pantoffeln und Socken zitterten meine Zehen. Die alte Dame nähte indes barfuß auf dem kalten Holzboden.



Früher Geishas im Zimmer, heute Anime-Kissen

Nach der Tour durch das alte Herz des Hotels, traf ich Naomi noch in der Lobby. Ich musste die Interviews, die teilweise sehr intensiv und persönlich waren, erst einmal verdauen, also ließ ich die Kamera ruhen und plauderte etwas mit ihr. Sie bot mir an, mir den Rest vom Ort zu zeigen, wenn wir zusammen ihr Kind abholen können.

Sie zeigte mir den Friedhof der Houshi. Die Gräber bieten einen Blick auf die Kirschblüte in voller Pracht. In Hiroshima waren die Blüten zu der Zeit schon verschwunden.

Sie lud mich dann zu sich nachhause ein. Ihr Mann ist Bäcker, sie betreiben eine kleine aber sehr gute Bäckerei, fünf Minuten vom Hotel Houshi entfernt. Sie boten mir Wein, Käse und Brot an, während die zwei kleinsten Kinder nebenan versuchten einzuschlafen.

Zurück im Houshi sammelte ich weiter ein paar Bilder. Eine wirkliche Pause hatte ich nie. Das Problem daran, wenn man am gleichen Ort schläft und dreht ist nämlich, dass man immer nach Bildern sucht. Ich wollte kurz das Brot von Naomi und ihrem Mann genießen und sah an der Wand das Lichtspiel vom Fluss. Also Pause beenden, Kamera aufbauen und Linse einstellen.

Die Tochter Hisae suchte seit dem Interview immer meine Nähe. Sie hatte sich mir anvertraut und hatte nun natürlich die Hoffnung, sich weiterhin auf mich verlassen zu können. Sobald sie aber meine Kamera sah, sprang sie aus dem Bild. Am Abend konnte ich sie beruhigen. Da ich seit 5 Uhr früh bereits auf den Beinen war, waren alle meine Akkus aufgebraucht und leer. Die Kamera musste pausieren. „Hoffentlich bleiben die Akkus ewig leer“ sagte sie.


Jeden Abend bereiten ein oder zwei Angestellte den Futon im Zimmer für die Nacht vor.

Hisae arbeitete am Abend im Souvenirladen des Hotels. Sie sprang auch nur für jemanden ein, der gerade im Krankenhaus lag. Abends kauft auch eigentlich keiner Souvenirs, doch sie stand hier trotzdem. Für jede Ablenkung war sie dankbar und daher bot sie mir an – nachdem sie sah, dass ich keine Kamera mit mir hatte – eine Tour zu geben.

Als wir an den vielen Türen vorbeizogen erzählte sie von Prominenten oder berühmten Sportlern, die in diesen Zimmern übernachtet hatten. Dabei fing sie immer wieder an zu verhandeln. Hisae ist sehr schüchtern und hat eine geringe Meinung von sich und ihrem Aussehen. Ich meinte, dass der fertige Film wohl so sechs Minuten lang sein wird und sie davon einen Anteil von mindestens drei Minuten hat. Im Laufe des Gesprächs wollten sie mich immer wieder runterhandeln. Teilweise mitten im Satz. Das klang dann so:

„Hier in diesem Zimmer hat ein berühmter Baseballspieler übernachtet und bitte gib mir nur eine Minute im Film statt drei. Da drüben übernachtete mal ein Sänger von SMAP.“

Wir gingen auch kurz raus in den Abend und sie zeigte mir andere Stellen im Ort, wo die heissen Quellen unter der Oberfläche sprudelten oder wo sie für ihren Hund das Futter kauft.

Ich sammelte anschließend noch bis 22 Uhr Material und war platt. Ich fühlte nach dem Interview die Last der Geschichte auch auf meinen Schultern. Wie sollte ich das mit einer Kamera darstellen können? Ich hatte das Gefühl die Geschichte nicht so erzählen zu können, wie es sie verdient. Ich suchte weiter verzweifelt nach Bildern und ging meine Liste durch, bis ich nach 17 Stunden fast konstant Drehen in den Futon plumpste. Am nächsten Morgen wollte Vater Houshi eine buddhistische Zeremonie halten, halb 7 Uhr früh. Dafür musste ich bereit sein.

Bei meinem ersten Besuch hielt er die Zeremonie nur für mich. Deswegen drehte ich sie bei meinem zweiten Besuch noch einmal nach, dann auch mit Gästen. In den finalen Film hat es die Szene trotzdem nicht geschafft, weil die Präsenz vom Vater sonst viel zu massiv gewesen wäre.

Als nächstes: Die Quelle.

Ich schnappte mir Shou und ein Handtuch und wagte mich ins Bad. Alle paar Sekunden musste ich die Linse reinigen, weil sie beschlagen war. (Halb)nackt habe ich auch noch nie gearbeitet.
Shou hat aber alles mit sich machen lassen.

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Als ich fertig war, verstaute ich Kamera, Objektive, Aufnahmegerät und das nasse Stativ von meinem Professor im Nebenraum und legte mich selbst noch einmal für ein paar Minuten ins Wasser.

Die Quelle der Houshi sprudelte vor Jahrhunderten noch direkt unter der Oberfläche. Heute speist sie sich aus drei Quellen, die zwischen drei und sieben Meter tief sind. Das ist aber kein Vergleich mit den meisten anderen Onsen in Japan, die teilweise mehrere hundert Meter tief pumpen müssen.

Die eigentliche Quelle zeigte mir der Patriarch am Ende meines Besuches. Sie ist überraschend unspektakulär.

Im Interview fragte ich die Familienmitglieder „Spielst du ein Instrument?“ Das ist ein recht praktischer Trick im Film, denn erstens komme ich so an lizenfreie musikalische Untermalung und zweitens ist es eine schöne Szene, abseits vom Alltag. Mutter und Tochter meinten dann, sie spielen bzw. üben Shamisen. Für mich hatten sie jetzt nochmal die Shamisen-Lehrerin kommen lassen und haben einen Unterrichtsstunde eingeschoben. Das ist auch eine schöne Szene im Film geworden.

Die Lehrerin war sehr freundlich und lobte die beiden ständig. Aber so richtig gut spielten weder Mutter noch Tochter… Vielleichts lags auch an der Kamera.

Am dritten Tag war ich fertig. Die Knie wackelten, der Kopf dröhnte. Drei Tage ohne Pause schleppe ich das Stativ und die Kamera nun schon durch das Hotel. Ich renne dem Patriarchen hinterher und versuche Hisae zu filmen, ohne dass sie wegläuft. Ich muss ständig kreativ sein und neue Bildideen suchen um dieser großen Geschichte auch nur annährend gerecht zu werden. So ist mein Anspruch.

Am Tag der Abreise stelle ich enttäuscht fest, dass ich es nicht geschafft habe. Drei Tage sind für 1,300 Jahre einfach zu wenig. Ich war unzufrieden, enttäuscht und frustriert mit mir selbst. Aber ich musste wieder zurück nach Hiroshima.
Ich bezahlte die Rechnung für die drei Tage – kostenlos ging zwar nicht, aber ich bekam 70% Journalismus-Rabatt – und Mutter & Tochter brachten mich zum Bahnhof. Tochter Hisae wollte mir unbedingt noch ihren Hund zeigen, einen lauten Kläffer mit frisierten Fell und französischen Namen. Sie warteten mit mir bis mein Zug einfuhr. Ich sagte noch, dass ich wahrscheinlich wiederkommen muss und Hisae fragte aufgeregt „Wann??“

Erst zurück nach Kyoto, dort eine Nacht im Internet-Café übernachten und dann weiter am nächsten Morgen nach Hiroshima. Als ich dort eine Nacht später aufwachte und zur Uni torkelte, fühlte ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen.

Es war der anstrengendste Dreh, den ich je hatte. Sicher nicht nur wegen der großen Aufgaben, sondern auch wegen dem mangelnden Schlafen davor, danach und währrenddessen. So konnte es nicht weitergehen. Das mindeste ist, dass ich nächstes Mal Pausen einplane.

Es sollte noch fast drei Monate dauern, bis ich erneut im Houshi zu Gast war.

Making of: Im Tal der Puppen

Im November 2013 brach ich auf, ins Tal der Puppen. Im April 2014 veröffentlichte ich die Geschichte. Und im November 2014 erhielt ich in Frankfurt einen großen Preis dafür. Zeit für die Geschichte hinter der Geschichte

Achtung: Wer das Video bis jetzt immer noch nicht gesehen hat, sollte das jetzt tun – „Im Tal der Puppen“ auf Vimeo

Die häufigste Frage, die mir zu der Geschichte gestellt wurde: Wie hast du das gefunden?
Die Antwort ist tatsächlich relativ unspektakulär. Seit meiner Zeit in Tokyo 2009-2010 verfolge ich Webseiten, Blogs, und Twitter zu Japan. Taucht da was interessantes auf, kommt es in eine Liste von „Geschichten, die man mal machen kann“. So fand ich 2010 einen Blogeintrag zu dem Dorf der Puppen. Der Eintrag auf Englisch wurde veröffentlicht im Blog der Tokyo Times, das Original gibt es nicht mehr, aber hier ist eine Kopie.
Lange Zeit war das die einzige englischsprachige Quelle für die Geschichte, und es wurden immer die gleichen Bilder daraus kopiert. Ich merkte damals schon, welchen großen Anklang die Geschichte fand, auch wenn ich den Artikel für nicht sonderlich gelungen hielt.

Als ich dann im Oktober 2013 nach Hiroshima gezogen bin, warf ich wieder einen Blick auf meine Liste der Geschichten. Shikoku, wo das Tal sein sollte, lag relativ nah, also ging ich die Geschichte an.

Die lange Fahrt bis zum Tal

Ich kann die Geschichte nicht erzählen ohne Yuki und Miki.
Beide verbrachten 2012/13 ein Jahr an meiner Uni in Hannover, als Teil des gleichen Austauschprogramms, welches mich nach Hiroshima brachte. In der Zeit traf ich allerdings nur Yuki, und auch nur einmal. Sie wollte eine Ausstellung in Hiroshima machen und suchte noch nach deutschen Fotografen. Yuki spricht kein Deutsch und schlecht Englisch. Sie war absolut froh, dass sie mit mir jemanden gefunden hatte, mit dem sie sich endlich einigermaßen normal verständigen konnte. Wir trafen uns auf ein Stück Kuchen.

Yuki ist eine begnadete Designerin mit riesigen Talent. Sie war mit Abstand die beste Grafikerin als sie noch in Hiroshima studierte und sie gewinnt regelmäßige Wettbewerbe mit ihren Entwürfen. Sie ist auch Sängerin ihrer Band und großer Fan der japanischen Idol-Kultur. Man sieht es ihrem Körper an. Aber die verlässlichste ist sie nicht.

Im Sommer 2013, vor meinem Abflug, sprach ich mit Yuki über diese Geschichte. Sie meinte nur „supercool!“ und „ich stamme aus Shikoku! Ich werde dir helfen!“

Ich wollte die Geschichte unbedingt im Herbst machen, weil ich visuell diesen Zustand zwischen lebendig und tot transportieren wollte, welcher diese Geschichte ausmacht. Nachdem Yuki mich nun immer wieder hingehalten und den Termin für unsere Abfahrt verschoben hatte, setzte ich ihr ein Ultimatum. Jetzt oder nie. Zur Not mach ich es eben ohne sie.


Letzte Vorbereitung und Kameracheck in der Nacht zuvor

Das war an einem Donnerstag. Ich war morgens aus Tokyo zurückgekehrt und es war eigentlich auch geplant, dass wir an diesem Wochenende fahren. Donnerstag Mittag meinte Yuki noch, dass es wohl doch schwierig sei, aber am Nachmittag war sie dann mit dabei. „Soll ich noch jemanden mitnehmen um dir zu helfen?“ fragte sie. Warum nicht. Also rief Yuki Miki an. Treffpunkt war Freitag morgen um 6:45 Uhr.

Auf die Insel

Miki hatte ich vorher ein paar Mal gesehen, aber viel wusste ich noch nicht von ihr. Sie ist DJ, liebt deutschen Techno, hat eine für Japanerinnen ungewöhnlich tiefe Stimme und dazu einen sehr trockenen Humor. Miki war pünktlich.

Der Bus sollte 7.09 Uhr nach Tokushima fahren. Doch selbst um 7 Uhr war Yuki nicht zu sehen. Miki kaufte mir schon mal ein Ticket. Ich hatte nämlich zu dem Zeitpunkt kein Geld dabei und keine Chance welches abzuheben. Meine Kreditkarte muss nämlich regelmäßig aufgeladen werden, was ich zwar zuvor tat, aber das Geld war noch nicht drauf. 7.07 Uhr, kein Geld, keine Yuki, aber ein Busticket, das mir Miki in die Hand drückte. Was nun.

Miki schubste mich Richtung Bus und meinte, ich solle schon mal fahren, die beiden kommen dann nach. Mit der dicken Kameratasche drückte ich mich am Fahrer vorbei, der schon etwas angepisst war, da er schon längst losgefahren sein wollte. Miki meinte noch kurz auf Deutsch, dass der Busfahrer „nicht freundlich“ ist, da ging die Tür vor ihr schon zu. Etwas verwirrt setzte ich mich auf den freien Platz hinter den Fahrer. Der nuschelte daraufhin etwas energisch durch seinen Mundschutz. Ich sagte nur „Hai!“ und setzte mich. Er nuschelte erneut, nun lauter. Jetzt verstand ich es auch. „Ich hab gesagt: Dort nicht hinsetzen!“. Ich trollte mich zum Ende vom Bus.

Es ging durch Täler, durch Berge, über viele Brücken und nach zwei Stunden war ich dann in Tokushima. Kaum war ich aus dem Bus, sprach mich eine japanische Frau an. „Du bist Fritz, richtig?“. Es war die Mutter von Yuki. Sie hatte ihre Eltern überzeugt uns ins Tal der Puppen zu fahren. Sie warteten nun auf uns in Tokushima, aber es war nur der Deutsche da.
„Yuki hat mich angerufen. Sie hat mit Miki die Fähre genommen, sie kommt in Ehime an. Wir fahren jetzt dorthin.“

Zum Verständnis: Shikoku besteht aus vier Präfekturen. Die Eltern stammen aus Ehime, das Tal der Puppen liegt in Tokushima. Die Eltern sind also aus Ehime nach Tokushima gefahren, um dann wieder zurück nach Ehime zu fahren um die Tochter abzuholen, nur um dann wieder zurück nach Tokushima zu fahren.
Yuki ist übrigens Einzelkind.

Die Eltern waren nicht sehr gesprächig. Der Vater ist in der Abfallsentsorgung tätig, die Mutter arbeitet auf dem Markt und hat sich extra für heute freigenommen. Beide haben nicht studiert, die Tochter schon – für knapp 6.000 Euro im Jahr. Aber so richtig Druck, was sie danach machen soll, machen sie ihr nicht.

Immer an der Küste entlang erreichten wir irgendwann den Hafen. Yuki verbeugte sich tief und entschuldigte sich fünf Mal. Miki grinste nur und holte schon mal die Kamera raus. Yuki hatte sich für die Fähre entschieden, weil diese schneller als der Bus war. Was sie nicht beachtete: Die Fähre ist doppelt so teuer und kommt an einer anderen Ecke von Shikoku an.
Am Abend zuvor bat ich Yuki mir die Interview-Fragen auszudrucken, welche sie übersetzen wollte. Ich fragte sie, ob sie das Papier dabei hat, weil mir noch ein paar Fragen eingefallen sind. Doch sie hatte die Fragen in der Fähre liegen lassen. Natürlich.


Bevor es losging, luden die Eltern noch schnell zum Udon ein

Das Idol und der Samurai

Im nächsten Conbini besorgten wir noch Proviant und druckten das Interview erneut aus. Bis zum Tal waren es noch ein paar Stunden, also nutzten wir die Zeit das Interview zu korrigieren.

Mit meinem begrenzten Japanisch schaute ich ab und an aufs Blatt und stellte selbst noch einige Fehler fest. Yuki erzählte in der Zwischenzeit von ihrem letzten Konzert und dem nächsten Auftritt, der im Dezember geplant war. Miki korrigierte mit ernster Miene und fragte ab und an, was ein Wort auf Deutsch heisst.

Nach drei Stunden Fahrt:
„Fritz, wann erwartet uns die Dame?“
-„Sie erwartet uns gar nicht.“
„…du hast sie nicht vorher angerufen…??“
-„Nein, ich weiss nicht einmal ob sie noch lebt.“
„Das heisst wir fahren seit Stunden komplett ins Ungewisse?“
Ich lächelte nur und sagte: „Richtig. Abenteuer!“

Das ist meine Auffassung von Journalismus. Einfach irgendwohin fahren und schauen was sich entwickelt. Alle Kontakte, Antworten und Termine vorher zu haben, das ist langweilig. Aber für Japaner, die alles immer gern dreimal abgesichert haben möchten, war das natürlich nicht einfach nachzuvollziehen. Yuki zeigte sich besorgt, ihren Eltern war es egal und Miki hob nur leicht die Faust und sagte trocken „Abenteuer.“

Die gesamte Autofahrt war tatsächlich sehr unterhaltsam. An der Tür saß Yuki, die sich mit einer Energie in Aufregung und Sorge stürzte, und sich dabei über jeden Fluss, Brücke und dörfische Landschaft kindlich freute. Und neben mir saß ein ernster Samurai, der manchmal nur mit der Augenbraue zucken musste, um eine Pointe zu setzen. Selbst wenn wir die Puppenfrau nicht gefunden hätten, der Roadtrip alleine war die Reise wert. Auch die Eltern freuten sich, mal einen Teil von Shikoku zu entdecken, in dem sie vorher noch nie waren.

Wir fuhren seit über einer Stunde durch das Tal. Die teilweise einspurige Straße am Berg entlang war leer und kurvig. Überall nur Berge, Wälder, Bäume, aber keine Puppen. Nach einer Kurve zu viel bat ich um eine Pause. Mir war schlecht und ich brauchte kurz frische Luft. Wir hielten zufälligerweise direkt neben dem Touristen-Informationsbüro vom östlichen Iya-Tal. Vielleicht wissen die ja was von den Puppen. Yuki und Miki gingen voran, ich folgte langsam. Beim Betreten hatten wir dann unsere Antwort.

Die Puppen sahen genau so aus wie die, die ich auf den Fotos gesehen hatte. Wir fragten die Dame im Büro, die ihren Kollegen holte. Ein lustiger Kauz. Es stellt sich heraus, dass er ein Freund der Puppenfrau ist. Er malte uns eine Karte. „Ohne diese Karte hättet ihr das Dorf nie gefunden“ sagte er noch, als wir gingen.
Glück muss man haben.

Es dauerte noch mal ungefähr eine Stunde, bevor wir das Dorf erreichten. Yuki las ihren Eltern die Karte vor. Je näher wir Nagoro kamen, desto mehr Puppen tauchten links und rechts der Straße auf. Meine Aufregung wuchs. Ich konnte spüren, dass wir der Geschichte ganz nah waren.

Es gab zwar kein Ortsschild, aber als wir ungefähr den markierten Punkt auf der Karte trafen, tauchte rechts von uns ein Haus auf, vor dem sich unzählige Puppen befanden. „Wir habens!“ rief ich von hinten und Yukis Vater fuhr zum Haus hinauf. Yuki und Miki waren nun auch von meiner Begeisterung angesteckt und stürmten hinaus. Wir sahen eine alte Dame, die einem älteren Paar etwas erklärte. Das musste sie sein.

Das lange Interview

„Hallo! Sind Sie Ayano Tsukimi?“
-„…ja?“
„Meine Name ist Fritz Schumann, ich bin Journalist aus Deutschland. Ich würde sie gerne etwas begleiten und einen Film über sie machen!“
-„……..in Ordnung.“

Zugegeben, für japanische Verhältnisse war das sehr direkt. Ich bin mit der Kamera direkt durch die Schiebetür ins Haus gefallen. Und sie war am Anfang auch etwas distanziert. „Ich habe gerade Gäste. Wartet mal zwei Stunden, dann habe ich Zeit für euch.“
Wir berieten uns kurz. Am Abend wollten Miki, Yuki und ihre Eltern eigentlich wieder nach Hause. Und es wurde bereits dunkel. Blieben wir nun alle oder kommen wir später wieder?
Yuki, angesteckt vom Abenteuer und meiner Begeisterung, redete auf ihre Eltern ein, während ich die Kamera aufbaute. Natürlich sagten die Eltern ja. Yuki und Miki wollten auch sofort damit anfangen, den Film zu machen. Ich bat sie aber erstmal mir aus dem Bild zu gehen.

Es dauerte keine 30 Minuten, da kam Ayano Tsukimi wieder zu mir, diesmal sichtlich freundlicher. Wir können das Interview jetzt machen sagte sie. Ich baute Ton und Technik auf.

Yukis Eltern befanden sich während des gesamten Interviews nur einen Meter von Ayano Tsukimi entfernt. Beide schliefen. Die lange Fahrt war dann doch anstrengend.

Das Interview lief schleppend. Es war mein erstes Interview in Japan und Miki stellte meine Fragen. Sie war absolut nervös, aber wahrte als echter Samurai die ernste Miene und blieb diszipliniert dabei. Yuki hielt das Mikro und schlief dabei fast ein.

Die Fragen, die bei Deutschen noch funktionierten, klappten bei ihr nicht. Direkten Fragen wich sie aus, auf andere Fragen antwortete sie nur vage. Teilweise musste ich eine Frage fünf mal stellen, bevor ich eine verwertbare Antwort bekam. Ich war nach dem Interview schon etwas enttäuscht.

Es sollte um das Thema Tod, Einsamkeit und Erinnerung gehen. Doch zitierbare Sätze gab sie mir kaum. Zudem verstand ich zu dem Zeitpunkt nur so ca. 30% der Antworten. Alle 20 Minuten tönte auch ein Alarm und wir mussten pausieren.
In dieser isolierten Region ist jedes Haus mit einem Nachrichtennetzwerk ausgestattet. Falls jemand vermisst ist, vor Unwetter gewarnt wird oder sonstiges. In den Nachrichten tauchten immer alte Damen auf, die verloren gingen oder wieder gefunden wurden. Yuki seufzte bei jeder Nachricht. Ich stöhnte, und Miki raschelte mit dem Papier.

Nach 45 Minuten hatte Ayano Tsukimi keine Lust mehr. Sie gab schon viele Interviews über ihre Puppen, aber keiner stellte je so viele Fragen wie dieser Deutsche jetzt. Ich stellte noch ein paar, aber nach weiteren 45 Minuten war dann auch Schluss. Ich hatte nicht, was ich wollte, und dachte eh nicht mehr, dass ich es bekommen kann.

„Wo schläfst du heute?“ fragte sie mich. Keine Ahnung. Ich hatte drauf spekuliert, dass ich bei ihr übernachten konnte. Doch obwohl sie mich inzwischen dann doch recht sympathisch gefunden hatte, war das nicht drin. Ist in Japan eh nicht üblich.
Sie empfahl mir ein Minshuku, ein simples Gasthaus, 15 Minuten mit dem Auto entfernt. Yuki gleich nervös „Ruf da sofort an! Vielleicht haben die keine Zimmer mehr!“. Japaner habens gerne sicher. Tatsächlich gab es an dem Abend neben mir nur noch zwei weitere Gäste. Die restlichen 20 Zimmer waren frei.

Es war bereits stockfinster und unser Auto quälte sich langsam die Kurven entlang. In den Scheinwerfern tauchten manchmal die Puppen auf und oft stoppten wir kurz erschrocken, in der Erwartung es sei ein Mensch.

Die Nacht im Sturm

Das Minshuku wusste Bescheid und nach einer kurzen Erklärung seitens Yuki ließ man mich auch rein. Noch schnell die Verabschiedung und das Auto fuhr wieder Richtung Ehime. Ich war jetzt alleine.
Der Manager, die Köchin und ein Angestellter Ende 20 begrüßten mich. Ich stellte fest, dass ich meinen Ausweis in Hiroshima vergessen hatte. Zähneknirschend meinte man, das sei kein Problem, ich solle nur meine Adresse aufschreiben. Die wusste ich aber auch nicht aus dem Kopf, schließlich wohnte ich erst seit vier Wochen dort. Die Angestellten wechselten besorgte Blicke.

Ich schrieb einfach „Hiroshima City University“ rein und meinem Namen dazu. „Ach und eins noch…“ sagte ich und zückte meine Kreditkarte. „Akzeptiert ihr das? Ich hab nämlich kein Geld dabei.“ Die Antwort auf die Frage wusste ich schon. Nein, sie akzeptierten das nicht.
Da war also nun ein Ausländer im Gasthaus, ohne Auto, ohne Ausweis und ohne Geld. Ob ich noch was essen möchte, fragte man mich trotzdem.

In der Nacht zog ein Sturm übers Tal, er hatte sich schon am Tag angedeutet. Im Fernsehen sah ich noch einen überraschend lustigen japanischen Film über einen Geist, der als Zeuge in einem Mordprozess aussagt. Der Wind pfeift durch das Holz des Hauses und drückte auf das Dach über mir. Es quietschte, haulte, knackte und wackelte alles. Ich schlief ein.
In der Nacht träumte ich auch von einem Geist, der irgendwas von mir wollte, aber ich bekämpfte ihn am Ende.

Drehtag

Am nächsten Morgen ging ich runter in den Essensraum. Die Drei der letzten Nacht schienen bereits auf mich zu warten. „Du musst heute abreisen“ sagte man mir.

Etwas irritiert setzte ich mich an den Tisch, wo bereits roher Fisch und gekochter Reis warteten. Der Älteste ergänzte: „Es kommt ein Sturm, wir machen heute dicht. Es haben Leute abgesagt und du bist unser einziger Gast. Es lohnt sich nicht. Bitte verlasse uns heute.“ Ich nahm einen Schluck grünen Tee und fragte mich, ob es nicht vielleicht doch etwas damit zu tun hat, dass ich ohne Geld und Ausweis hier gestrandet war.

Zum Dorf der Puppen fuhr kein Bus. Mein Plan war, dass ich entweder trampe oder laufe (ca. eine Stunde). Denn ich musste unbedingt bleiben und die Geschichte machen. Nach etwas hin und her haben wir dann entschieden, dass der jüngste Angestellte mich 30 Minuten zum nächsten Post-Amt fährt, wo ich (hoffentlich) Geld abheben könnte. Der junge Mann war sichtlich nervös und rauchte zwei Zigaretten, bevor ich im Auto war. Sonderlich gesprächig war er auch nicht.

Am Geldautomaten angekommen hoffte ich nur, dass das Geld aus Deutschland irgendwie seinen Weg auf meine Karte gefunden hat, damit ich hier im einsamen Iya-Tal doch noch irgendwie weg komme. Ich war ohne Geld und Auto hier so ziemlich gestrandet. Aber das gehört zum Abenteuer auch dazu, mir machte das nichts.
Der Angestellte drehte Kreise um sein Auto und wartete, bis ich vom Automaten zurückkehrte. Mit 50.000 Yen in der Hand winkte ich ihm zu. Auf einmal wurde er viel freundlicher.

Ich bezahlte die Rechnung und er wollte mich zum Dorf der Puppen fahren. Auf dem Weg machte ich aus dem Fenster viele Fotos. Irgendwann bot er mir auch einfach an zu halten, sodass ich aussteigen konnte.

Nun erzählte er auch von der Puppenfrau. Einerseits war er froh, dass es sie gibt. Die Puppen locken Touristen an und sorgen für Umsatz. Andererseits hat er, wie so viele andere im Tal, auch immer noch Angst vor ihnen. „Besonders nachts, wenn man mit dem Auto unterwegs ist.“ Trotzdem scheute er sich, sich eindeutig oder negativ über sie zu äußern.

Er setzte mich vor ihrem Haus ab und fuhr nach einem kurzen Abschied davon.
Die Puppenfrau hatte schon wieder Besuch, eine Familie. Stolz stellte sie mich vor. „Das ist ein Journalist aus Deutschland, der macht einen Film über mich. Und er kann voll gut Japanisch.“

Bereits im Interview am Abend zuvor bot sie mir an, dass wir zur verlassenen Schule gehen. Die Besucher wollten gleich mitkommen. Ich schulterte schnell die Kamera und rannte hinterher. In der Schule blieb ich dann noch zwei Stunden alleine um alles zu fotografieren, bevor sie mit dem Schlüssel kam und mich abholte.

In der Schule war ich komplett alleine. Nun spürte ich auch, was der Angestellte meinte. Zweimal glaubte ich fest, dass mich einer beobachtet. Dabei war es nur eine Puppe. Es war beide Male die gleiche verdammte Puppe. Das Kind rechts auf der Treppe.

Die Blumen stellt sie jede Woche frisch in der Schule auf.

Als Gag wollte ich eigentlich in dem fertigen Film auch als Puppe auftauchen. Ich nahm also neben dem Lehrer Platz. Am Bart erkennt man es aber leider.

Ob ich schon etwas gegessen habe, fragte sie mich, als sie mich von der Schule abholte. Nein sagte ich, und sie ging wortlos. Zurück im Haus stellte sie mir Onigiri und Gemüse aus eigenem Anbau hin. Es waren die leckersten Süßkartoffeln die ich je hatte.
Ich erzählte ihr von meinem Alptraum mit dem Geist und sie lachte nur herzlich.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits 4-5 Stunden das gesamte Dorf und fast jede Puppe abfotografiert. Zwischendurch kamen immer wieder Touristen oder andere Besucher. Viele waren über mich, den jungen Ausländer, genauso verwundert, wie über die Puppen.
Als es dunkel wurde, fragte sie mich „Hast du nicht langsam mal genug Bilder?“

Sie genießt wirklich die Aufmerksamkeit, welche sie durch die Puppen oder die Kamera erhält. Aber sie hat auch diese Einsamkeit und Isolation gewählt. Ständige Besucher, die wieder gehen, das ist in Ordnung. Aber jemand der bleibt… das machte sie nervös.
Wir verstanden uns jedoch prächtig. Es kam später noch eine alte Nachbarin vorbei und zusammen schauten sie Eiskunstlaufen im Fernsehen. Als ich die Puppenfrau fragte, warum ihr das gefällt, sagte sie: „Die sind so jung und sehen alle so gut aus. Wie du!“ und die beiden Damen feixten wie Schulmädchen.

Ihre Freundin konnte ich übrigens nur schwer verstehen. Sie sprach ein komisches Berg-Japanisch, die Puppenfrau musste manchmal übersetzen. Sie gab sich dabei viel Mühe und sprach immer langsam und deutliches Hochjapanisch mit mir.


Die Töpferwaren bot sie auch zum Verkauf an

Gegen Abend fragte sie wieder wo ich heute schlafe. Trotz all der Zuneigung war ihr Haus dann doch ausgeschlossen. Und das Minshuku von letzter Nacht ja auch. Ihr fiel noch ein teures Hotel ein, 20 Minuten mit dem Auto. Die Nacht kostet aber 11.700 Yen. Happig, sagte ich. „Aber es gib wohl keine andere Möglichkeit….“ sagte ich und schaute sie dabei konzentriert an. Sie buchte mir ein Zimmer und fuhr mich auch zum Hotel. Am nächsten Morgen wollte sie mich dort auch abholen und zum Bahnhof bringen.

Zurück aus dem Tal

Das Zimmer war riesig. Für 11.700 Yen bekam man wirklich viel geboten. Das Abendessen dauerte eine Stunde, in der ein Kellner mir ständig neues Essen brachte. Alles lokal, alles köstlich. Aber es wollte einfach nicht aufhören. Die heiße Quelle vom Hotel hatte ich anschließend komplett für mich alleine, da die Gäste noch am Trinken waren.

Ich fragte beim Einchecken nach dem Passwort fürs WLAN. Die Antwort: „Passwort? Wir haben hier kein Passwort. Wir sind soweit draußen, es gibt hier weit und breit keinen, der uns das Internet klauen kann.“ So definiert sich wohl Isolation im 21. Jahrhundert.

Das teure Hotel tat zwar mir und meinem Geldbeutel sehr weh, aber dann dachte ich mir auch: was solls. Bezahlt ist es eh, warum nicht genießen.

Meine Kamera bekam ein eigenes Bett, das hatte sie sich verdient.

Am nächsten Morgen sah ich dann, warum die Puppenfrau das Hotel kannte.

Im Auto erzählte sie mir auch etwas dazu, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich glaube einer der Puppen war/ist der Besitzer vom Hotel.

Sie begrüßte mich nach dem ebenfalls unendlichen Frühstück mit „Na, gab kein Brot, was?“ und lachte. Ich hatte nämlich am Tag zuvor das Frühstück im Minshuku kaum runterbekommen. Kalter Reis und toter Fisch am Morgen ist nicht so meins. Am Abend kein Problem, aber morgens hab ich dann doch lieber irgendwas aus Teig.

Zusammen mit ihrer Nachbarin fuhren wir zum Bahnhof. Wir hielten mal an, weil sie mir eine große Brücke zeigen wollte, auf der wir dann zusammen im Wind schaukelten. Nach einer Stunde zeigte sie mir die erste Ampel seit Nagoro. Nach anderthalb Stunden waren wir am Bahnhof. Sie sagte „Sayonara“, ich sagte „Bis dann“ und sie fuhr davon.

Der Zug kommt einmal in der Stunde, es blieb also noch Zeit mal kurz aufs Klo zu gehen. Das WC befand sich außerhalb vom Bahnhof, ich musste einmal ums Gebäude. Und dort sollte ich dann die letzte von Ayanos Puppen sehen. Anderthalb Stunden von ihrem Haus entfernt, am Eingang vom Tal.

Ich nahm den Zug nach Tokushima, und von dort den Bus nach Hiroshima. Rückblickend war das etwas umständlich, ich hätte direkt den Zug nach Hiroshima nehmen können. Auch wenn es zeitlich ungefähr auf das gleiche hinaus gelaufen wäre.

Am Sonntag Abend war ich dann wieder in dem Zimmer vom Studentenwohnheim. Eine lange Fahrt und gerade mal anderthalb Tage Fotografieren und Drehen hatte ich für die Geschichte. Ich war tatsächlich etwas enttäuscht, aber die Puppen sollten mich noch eine lange Zeit begleiten.

Demnächst geht es dann weiter mit Einträgen zum Schnitt und zum nachhaltigen Erfolg des Films.