Langer Pariser


Ich war ja letzten Herbst in Paris. Und in Tokyo. Und Rom. Ich hab auch überlegt, ob ich daraus eine mehrteilige Nacherzählung wie mit Finnland mache. Aber das Video, was ich damals direkt danach zusammengeschnitten habe, erzählt viel visueller und stärker, wie die Reise war und wie sie sich anfühlte. Mehr als ich mit einer Bild-Text-Kombination vermitteln könnte – und das ist eine Erkenntnis, die mich selbst sehr überrascht.

Mein preiswertes Ticket nach Tokyo (250 Euro für hin und zurück), ging nicht über Berlin, sondern über Rom und Paris. Auf meinem Rückflug konnte ich dann gleich eine Freundin und Kollegin dort besuchen. Sie ist eine deutsche Fotografin, die ich in Tokyo kennenlernte und lange Zeit in London lebte. Nun unterrichtet sie Fotografie in Paris. Unter dem Dach ihrer Maisonetten-Wohnung bot sie mir eine Matratze an. Der Kater freute sich.

Beinahe wäre ich in der Nacht meiner Ankunft irgendwo in Paris gestrandet. Mein Handy konnte meine Freundin nicht erreichen. Ein arabisches Internet-Café an der Ecke hatte aber noch knapp 10 Minuten geöffnet. Genug Zeit, um per Facebook eine Nachricht zu schicken. „Bin an der Ecke, komm mich holen“
Richtung Eiffelturm lag dann ihre Wohnung.

Mein Zugticket nach Deutschland lag schon bei ihr auf dem Schreibtisch. Ich hatte nämlich vor meiner Reise bei der Bahn angerufen. Mein Job in Kopenhagen lag nur wenige Wochen zurück. Ich meinte: „Ich flieg demnächst mal nach Paris. Ist es vielleicht möglich, dass Sie mir ein Ticket nach Hannover geben können?“ – im Austausch gegen Bilder, versteht sich.
Da sie mit meinen Kopenhagen-Fotos sehr zufrieden waren, dauerte es nicht lange, bis die Zusage kam. Das Ticket habe ich dann der Freundin in Frankreich schicken lassen.

So bin ich dann im 1.Klasse Abteil von Paris nach Hannover gefahren. Für null Euro.
Bedingung war halt nur, dass ich noch Bilder aus der Stadt liefere. Also Eiffelturm überall.

Ich war nur zwei Nächte in Paris. Kaum Zeit, um im Jetlag noch viele Bilder mitzunehmen. Ich suchte mir einfach eine Route aus und ging einige Sehenswürdigkeiten ab.
Vor mehr als zehn Jahren war ich schon einmal in Paris. Damals noch zusammen mit den Eltern. Oben auf dem Eiffelturm und mit hundert anderen Touristen in Versailles. Musste diesmal nicht unbedingt sein.

Insgesamt war ich überrascht, wie viel Französisch ich noch beherrschte. Fünf Jahre auf dem Gymnasium reichten aus, um noch 80% zu verstehen. Ich konnte zwar keine Sätze mehr formulieren, aber ich verstand fast alles. Ich denke, noch mal ein paar Monate Frankreich, und ich kann es fließend. Meine Französischlehrerin Frau Gudrun Bernhagen wäre stolz auf mich.

Nikki, bei der ich zuvor 12 Nächte in Tokyo blieb, warnte mich noch. Als sie vergangenes Jahr in Europa war, ist sie auf einen Betrüger reingefallen und hat so 70 Euro verloren. Das wird mir schon nicht passieren. Dachte ich.

Nachdem ich das obige Foto machte, kam mir eine ältere Dame entgegen. In ihrer Hand hielt sie einen massiven, glänzenden Ring. Auf Englisch fragte sie mich, ob das mein Ring sei. Sie hatte ihn gerade gefunden, sagte sie. Ich verneinte und sie schaute mich eine Weile an, nahm meine Hand, und drückte den Ring hinein. Bevor ich reagieren konnte, erzählte sie bereits.
Sie stammt aus Jugoslawien, die Liebe hat ihr kein Glück gebracht. Von ihrem Mann lebt sie getrennt. Ich sollte den Ring nehmen und mehr Glück in der Liebe haben, sagte sie mir. Ich stammelte noch schnell „merci“ und dann ging sie auch schon.

Nach zwei Schritten, die ich langsam in die andere Richtung ging, rief sie mir etwas zu. Ob ich etwas Geld habe, für etwas zu essen. Ich kramte in der Hosentasche. In der linken Hand hielt ich nun den Ring, in der rechten 1,60 Euro, die ich als Wechselgeld am Arc de Triomphe für ein Sandwich bekam. Mehr hab ich nicht, sagte ich ihr. Sie meinte, der Ring sei doch mehr wert als das. Meinen 20 Euro Schein in meiner Geldbörse wollte ich ihr nun aber wirklich nicht geben und meinte erneut, mehr habe ich nicht. Sie lächelte mich an, verharrte kurz, nahm den Ring und die 1,60 Euro, und verschwand.
Ich war ihr nicht mal böse.

Am folgenden Abend fuhr mein Zug vom Gare du Nord ab. Ich kaufte mir noch eine Tüte mit gemischten Nüssen – mein Geheimtipp um auf langen Reisen dem Hunger vorzubeugen – und stieg in den Zug ein.

Es dauerte eine Weile, bis ich einen Schaffner fand, der Deutsch sprach. Es war mein fünfter Fototermin in einem Nachtzug und wieder wusste keiner über mein Kommen Bescheid.

Es gab eine kleine Motivliste von der Bahn. Allerdings gab es dazu auch den Hinweis, nur leere Abteile zu fotografieren. Der Zug war aber fast ausgebucht, also gab es kaum etwas zu tun. Es blieb somit nur noch mein Zimmer übrig.

In der Dunkelheit finde ich inzwischen blind die Lichtschalter im Nachtzug. Sie sind immer an der selben Stelle. Neben dem Kopfkissen.

Vor Feierabend ging ich den kompletten Zug noch zweimal ab.
Es war der erste Nachtzug, mit dem ich fuhr, der hintendran keine Autos transportierte. So hatte man aus dem Fenster des letzten Wagen einen klaren Blick auf die Strecke.

Da wir schon um 4 Uhr früh in Hannover einfuhren, war mein Frühstück noch in der Nacht. Die Bahn-Tasse habe ich als Andenken übrigens mitgenommen und heut morgen erst draus getrunken.

Die Reise Berlin-Rom-Moskau-Tokyo-Moskau-Paris-Hannover war auch die letzte große Reise, die ich machte. Es waren 14 Tage, fünf Länder und eben so viele Flüge. Gesamt war ich knapp 40 Stunden im Transit. Mein Kopf war es länger.
Verbunden mit der Reise waren, wenn man den für die Bahn mitzählt, fünf Aufträge. Ich plante auch eine große Reportage, über den letzten lebenden Ninja, aber die fiel dann leider ins Wasser.

Effizienter und günstiger hätte ich es aber nicht planen können. Ich habe überall bei Freunden übernachten können. Und ich hatte (bis auf die Verbindung Berlin – Rom, verdammtes easyjet) immer die günstigsten Tickets.

Nächsten Monat geht es wieder nach Japan, diesmal für mindestens ein halbes Jahr. Vielleicht auch länger. Im September will ich auch von dort für ein Wochenende nach Korea.
Dort fährt leider kein Nachtzug hin.

Endlich Finnland V: Schlaflos in Kopenhagen

Heimwärts.Die letzte Fahrt.
Vorher noch zehn Stunden lang Kopenhagen fotografieren. Ohne Schlaf.

Eine Stunde nachdem ich mich nördlich von Helsinki hinlegte, wachte ich schon wieder auf. Der Bus zum Flughafen fuhr in einer Stunde. Vorher noch packen, Zähne putzen, anziehen.
Das halbe Haus wachte wegen mir auf. Der Vater, weil er mich zur Busstation fuhr. Tiina, weil sie mich zum Flughafen begleiten wollte. Und der Hund, weil er mein Frühstück roch.

Im Auto konnte ich die Augen kaum offenhalten. Es zogen eh nur dunkle Bäume vorbei, kein gesunder Finne fährt um die Zeit durch die Wälder. Irgendwo in der Dunkelheit hielten wir dann. Hinter der Böschung liegt die Busstation, sagte der Vater, der zwei Tage zuvor noch mit mir in der Sauna Wodka trank. Aber es ist kalt draußen, wir warten mal lieber drinnen. Die Fenster waren beschlagen und bildeten kleine Bäche.

Teurer Transport durch die Nacht
Schwer rollte der Bus Richtung Helsinki um die Ecke. Er war überraschend voll. Tiina versuchte wieder den Trick, uns beide als finnische Studenten zu verkaufen. Doch jetzt, um vier Uhr nachts, wollte der Fahrer es genau wissen und prüfte meinen Ausweis. Hannover war keine Universität, die er kannte. Also bitte 40 Euro für die Fahrkarte.
So viel hatte ich nicht dabei. Tags zuvor probierte ich vergeblich noch in Mäntyharju alle Geldautomaten durch – in Finnland werden sie „Otto“ genannt. Doch keiner funktionierte, da alle bereits geleert wurden. Otto hatte kein Geld mehr.

Tiina bezahlte für mich und wir nahmen hinten im Bus Platz. Eine Stunde könnten wir wohl noch schlafen, bis wir am Flughafen sind. Aber ich traue Bussen eh nicht, und schlafen kann ich in ihnen sowieso nicht. Tiina gelang das ohne Probleme. Ich musste sie wecken, als wir bereits 45 Minuten später am Flughafen standen.

Zum Abschied lachte sie nur. Wie die ganze Woche schon. Ich verzog die Miene, unsicher wann wir uns wieder sehen würden. Doch sie lachte. Weniger wegen des Abschieds, mehr wegen der gemeinsamen Zeit, die wir hatten. Wir haben fast jeden wachen Moment verbracht. Und auch wenn ich mir in diesem Moment mehr Schlaf gewünscht hätte, ich bereute keinen einzigen davon.

Diesmal war ich weniger nervös, als noch im Flughafen in Kopenhagen. Ein Ticket nach Dänemark hätte ich gern, sie brauchen doch sicher nur meinen Ausweis, wa? Kein Ding, schon tausendmal gemacht. Hier bitte, er glänzt auch extra für sie.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht.
Wer im Internet ein Ticket kaufte, kann es in Helsinki scheinbar nicht am Schalter ausgedruckt bekommen, sondern muss zu einer Maschine. Die funktionierte allerdings nur mit Pässen, oder den ganz neuen EU-Personalausweisen mit Chip. Beides hatte ich nicht. Also musste ich doch das Stück Papier mit meiner Ticketnummer rauskramen und mit der Hand eintippen.
Wie archaisch.

Fünf Uhr. Mein Flieger ging um sieben. Zwei Stunden übermüdet rumkriegen, ohne Lektüre oder Smartphone ist nicht einfach. Einschlafen, unter dem Risiko meinen Flieger zu verpassen, war mir zu heikel. Also mal links durch den Flughafen. Rechts durch den Flughafen. Sonnenaufgang. Reisegruppe von verwirrten chinesischen Senioren schnattert laut. Und dann endlich Boarding. Die 28 Chinesen nahmen meinen Flieger. Die Zahl weiß ich so genau, weil ich sie alle zählte. Was man eben so macht, wenn man sich langweilt. Chinesen zählen. Sie machten wohl grad eine Europa-Rundreise. Souvenirs aus Helsinki hatten sie schon dabei.

Beim Betreten des Flugzeugs musste ich kräftig gähnen. Der Pilot, der uns begrüßte, nahm das sehr amüsiert zur Kenntnis. Als ich in Kopenhagen von Bord ging, fragte er mich noch, ob ich inzwischen aufgewacht bin.
Nein.

Die Senioren hatten Eile, ihr Gepäck zu holen. Ich nicht. Schließlich musste ich noch zehn Stunden rumkriegen.
Mit den restlichen Kronen, die ich noch hatte, zog ich ein Ticket für die S-Bahn. Ab in die Stadt. Der Himmel deutete schon keine guten Bilder an.

Erst einmal Frühstück. Und Kaffee. Viel Kaffee. Dabei trinke ich sonst keinen Kaffee. Doch jetzt brauchte ich ihn. Unbedingt.
In einem kleinen Café ließ ich mich in einen weichen Ledersessel fallen. Mein Gepäck rechts von mir, die Tasse und das Croissant auf der linken Lehne. Im Café spielte „Paperback Writer“ von den Beatles. But I need a break.

Ich ging meine Tickets durch. Von dem Fächer, den ich zu Beginn der Reise erhalten habe, war nur noch eine Fahrkarte übrig. Heimwärts. Die letzte Fahrt.

Ich kam ins Grübeln.
Wird das ab jetzt immer so sein? Reisen, Fotografieren, in fremden Städten Kaffee trinken?
Müde, wie ich war, konnte und mochte ich diesen Gedanken nicht bewerten. Aber es wurde mir klar: Warum ich jetzt hier sitze ist allein meine Schuld. Ich habe den Job aufgrund meiner Arbeit bekommen. Ich habe entschieden, wohin es gehen soll. Keiner hat es mir vermittelt, keiner für mich entschieden. Und das bedeutet folgendes: Es ist komplett reproduzierbar.
Es liegt in meiner Macht zu sagen, wohin ich möchte und was ich dort mache. Klar bin ich davon abhängig, am Ende jemanden mit Geld davon zu überzeugen, mir welches zu geben. Aber je länger ich diesen Quatsch nun schon mache, desto leichter fällt es mir. Und desto weiter geht die Reise.

Ich war überrascht, wie spät ich diesen Gedanken hatte. Denn um ehrlich zu sein, für Japan war mir dies schon immer klar. Wenn ich nach Japan gehe, weiß ich, ich kann mein Zeug loswerden. Wenn ich in Japan für Geschichten reise, dann nie, ohne die Ahnung, am Ende mindestens meine Kosten wieder reinzubekommen.
Für Deutschland probierte ich es gerade aus. Und jetzt auch noch Europa. Das war mir so nur noch nicht klar.

Mir war allerdings klar, wie müde ich war. Knapp neun Stunden hatte ich noch. Also erledigte ich erst mal meine Pflichten. Solange ich noch wach sein konnte. Zum Job gehörte nämlich auch Stadtbilder von Kopenhagen zu machen. Ich nahm mein Gepäck und zog durch die Straßen.

Kopenhagen ist nicht groß. Vieles, was ich eine Woche zuvor schon mit meiner Begleitung abgelaufen bin, sah ich jetzt wieder. Nur, dass ich alleine war. Und der Himmel grau.

Wo letzte Woche noch ein Jazzfestival mit Bier stattfand, war nur graues Pflaster. An der Straßenecke, wo letzte Woche noch eine Blaskapelle spielte, sammelten sich nur die Regentropfen.

In einer Kirche belauschte ich ein deutsches Pärchen, die in ihrem Reiseführer wühlten. Es sollte wohl gleich was großes passieren. Da, die Straße runter. Ich folgte ihnen mal.
Gemeint war die Wachablösung der königlichen Garde. Jeden Tag um 12 Uhr.

Riesenaufwand und Gedränge. Ich fand die vielen Touristen eigentlich spannender, als die Militärheinis.

Und alles stets bewacht. Bloß nicht aus der Reihe tanzen.

Wie die Beefeater in London, dürfen wohl auch diese Puschelmützen keine Miene verziehen. Touristen lichteten sich mit ihnen fröhlich ab.

Auch wenn die Männer selbst das wohl nicht so fröhlich macht.

Je näher ich den königlichen Gebäuden kam, desto strenger die Blicke der Soldaten. Aber ich hatte eh was ich wollte.
Wachablösung war jeden Tag um 12 Uhr. Noch acht Stunden Kopenhagen.


Urban Knitting?

Bereits im Zug nach Kopenhagen erzählten uns zwei betrunkene Dänen von Christiania, einem bunten „Hippie-Viertel“ für Künstler.

Obwohl es mir als „so super frei für Künstler und so“ angepriesen wurde – ich fand die Amtosphäre dort irgendwie angestrengt. Vielleicht schreiben alle Reiseführer über das bunte Christiania, und nun muss man dem Ruf gerecht werden. Oder ich war einfach nur verdammt müde vom Rumlaufen. Wahrscheinlicher ist Letzteres.

Ich lief vorbei an einer Kirche, die inzwischen eine Kunsthalle geworden war, und holte mir einen echten, dänischen Hotdog für 35 Kronen. Jetzt hatte ich nur noch fünf Kronen übrig, die ich auch behalten wollte, da mir die Gestaltung der Münze so gefiel.

Es war jetzt gerade einmal 14 Uhr. Der Tag wollte einfach nicht vergehen. Ich hatte alles wichtige fotografiert und keinen Speicherplatz mehr. Oder Lust. Oder Geld. Oder windfeste Kleidung.
In einer Kirche suchte ich mit meinem Gepäck Zuflucht. Hier war es wenigstens kostenfrei warm.
Zeit, die Fotos durchzugehen.

Als der Pastor begann sich wiederholt energisch in meine Richtung zu räuspern, zog ich von dannen. Ich war müde, mir war kalt, ich hatte kein Geld und kein Obdach in dieser Stadt. Also ging ich zum Bahnhof.

Die letzten drei Stunden verbrachte ich auf ner Bank zwischen Gleis 9 und 10. Schließlich sollte ich im Zug noch Bilder machen. Wenn das irgendwie noch klappen sollte, musste ich mich kurz mal ausruhen. Ich beobachtete Kopenhagen.

Die Kerle trugen keine Jacken, sondern entweder dünne Hemden mit kurzen Hosen. Oder dicke Pullis aus Wolle. Bestimmt mehrere Zentimeter dick, aus ganzen, zusammengepressten Schafen. Oder so. Ich hätte jetzt auch gern so nen Pulli, dachte ich fröstelnd. Die Mädels trugen auffallend oft schwarze Hosen unter einem Rock. Ich zählte 17 in einer Stunde.
Chinesen zählen klappte hier in Kopenhagen nicht.

Dann kam der Zug. Ich suchte meine Kontaktperson, die über mein Kommen informiert sein sollte. Bis heute war ich fünf Mal in der Bahn fotografieren. Nie wusste einer Bescheid. So auch nicht in Kopenhagen. Aber problemfrei akzeptierte man meine Unterlagen und gab mir ein Zimmer. Nur der Zugbegleiter in meinem Abteil nahm es ganz genau. Er überprüfte auch Personalausweis und meine Kamera. Er folgte mir auch durch jedes Abteil, als ich Bilder machte, und verlangte, die Fotos anschließend zu sehen. Er war erst zwei Jahre dabei, also noch jung und pflichtbewusst. Alle anderen Zugbegleiter, mit denen ich zu tun hatte, waren immer länger als sieben Jahre auf der Schiene. Da hieß es stets nur: Ja, passt schon.

Während es mir tagsüber in Kopenhagen noch sehr müßig fiel, mir Bildlösungen für eine Situation oder einen Ort einfallen zu lassen, ging es hier einfacher von der Hand. Ich machte alle Bilder einfach grafisch, brach sie runter auf Linien und Flächen. Ordnet man diese dann ordentlich an, bekommt man ein nettes Bild. Kein spannendes, aber ein sauberes. Für Spannung war ich zu müde.

Direkt nach der Abfahrt ging ein Alarm durch den Zug. Taschendiebe. Erwischt hat man keinen mehr. Wahrscheinlich ist der in Kopenhagen eingestiegen, einmal durch die Waggons, und dann wieder raus. Das gibt es auf der Strecke wohl häufiger. Ich schloss meine Kamera ein und ging zum Zugführer.

Auf meiner Liste hatte ich noch ein paar Fotos stehen. Allerdings, so war die Vorgabe, kann ich nur Bilder machen, wenn die Abteile leer sind. Und es waren alle voll, sagte mir der Zugführer. Ich war fertig.
Das erste Mal seit sieben Tagen war ich fertig.

Skeptisch nahm ich das zur Kenntnis. Die ganze Woche hatte ich noch Sachen im Hinterkopf, die erledigt werden wollen und nicht vergessen werden dürfen. Der Hinterkopf war leer. Ich kramte nach. Wirklich nichts vergessen? Alles gemacht? Alles fotografiert?
Ich war von der neugewonnen Freizeit etwas überfordert und legte mich hin. Mein iPod spielte Beatles. Come together, right now. Over me

Kurz vor Schleswig-Holstein schlief ich ein.

Ein Stopp in Hannover gibt es auf der Strecke eigentlich nicht. Aber da dort eh gehalten wird, um die Brötchen fürs Frühstück mitzunehmen, konnte ich die Zugbegleiter überzeugen, mich 2 Uhr nachts dort rauszulassen.
Ich nahm die letzte U-Bahn der Nacht zu meiner Wohnung. Im Kopf noch Helsinki, die Woche Finnland, das Roggenbrot im Zug. Am Abend wollte noch eine Kommilitonin vorbei kommen, nächste Woche war Abgabe für eine Hausarbeit. Und in vier Wochen würde ich schon wieder in Tokyo aufwachen und dort Kaffee trinken.

Epilog
Die Bahn war zufrieden mit meinen Bildern. Nachdem ich meine erste Auswahl abschickte, wollten sie noch mehr Fotos haben. Und selbst die, die ich aussortiert hatte, fanden sie dann gut.
Vorletzte Woche erreichte mich die Broschüre, in der sie einige der Fotos abdruckten. Zum Nachtzug gibt es gerade ne große Werbekampagne, in Bahnhöfen, auf Postern oder in Broschüren im ICE o.ä. Einige Bilder sind von mir, aber die gesamte Kampagne haben natürliche andere Fotografen gemacht. Ich bin da nur reingerutscht, meine Bilder kamen grad zeitlich passend.

Das ganze Ding war auf jeden Fall ein großer und wichtiger Schritt für mich als junger Fotograf. Sowohl als Referenz, als auch um meine Grenzen und Belastbarkeit auszutesten. Ich habe viel mitgenommen aus Finnland. Allen voran Tiinas Erkältung, die mich nach der ersten Nacht in Hannover erwischte.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

Endlich Finnland IV: Im Innern des Waldes

Es gibt da einen Ort tief im Wald, sagte sie, da gehen wir heute hin. Sie ging voran und ich hinterher.Stunden entfernt von der nächsten Straße entdeckten wir viel Wasser, einen vergessenen Schützengraben und einen Grillplatz am endlosen Ufer.

Der letzte Tag im Finnland begann im Haus am See. Der Weihnachtsmann war schon zur Arbeit, seine Frau saß noch im Wohnzimmer und schaute fern. Gähnend gesellte sich Tiina dazu. Es lief eine amerikanische Show mit finnischen Untertiteln. Grundsätzlich sind Filme und US-Serien nie synchronisiert, entweder gibt es Untertitel, oder in seltenen Fällen spricht eine Stimme monoton in Finnisch drüber. Die guten Englischkenntnisse der Finnen sollen eine Konsequenz von dieser Fernsehgestaltung sein – auch wenn alle Finnen, die ich sprach, das amerikanische Fernsehen für recht stupide halten.
Kurz vorm Ende der Show verabschiedete sich die Mutter in den Arbeitsalltag. Tiina trottete in die Küche und packte für den Tag.


Aussicht aus dem Küchenfenster

Wir brauchen Fleisch und Zeug, sagte sie. So genau ins Detail gehen wollte sie nicht. Der Ort, sowie das, was wir dort machen und essen, sollte ein Geheimnis bleiben. Tiina meinte nur, sie kennt da nen Ort im Wald, an dem man ein Feuer machen kann.
Wir marschierten los, sie mit Rucksack und ich mit Kameratasche. Ob ich ihr nicht was abnehmen kann, fragte ich. Sie lächelte nur und meinte, meine Kamera sei eh schon schwer genug. Recht hatte sie.

Durch den Garten gingen wir zum See. Diesmal schlugen wir allerdings den Weg links ein, statt rechts, wo der Steg lag. In Ufernähe standen vereinzelt kleine Wohnhäuser. Je länger wir liefen, desto weniger wurden es. Bis schlussendlich keins mehr zu sehen war, und nur noch Bäume den Weg säumten. Mittendrin blieb Tiina stehen. Sie hatte etwas furchtbar wichtiges vergessen. Ich solle nur mal eben hier im Wald warten.
Gerne.

Als ich diese Bilder hier mal in meinem Freundeskreis zeigte, hieß es: „Du bist ein echtes Stadtkind, ne?“. Es stimmt. Auch wenn Berlin im Vergleich mit Tokyo noch sehr grün ist, so bin ich doch zwischen Beton und Platten aufgewachsen. Der Ausflug in die Natur tat mir sehr gut, und ich konnte gar nicht aufhören, Bilder zu machen. Auch wenn es auf meinen Karten eng wurde.

Je weiter wir in den Wald gingen, desto schmaler wurde der Weg. Irgendwann war er ganz weg. Doch Tiina wusste schon, wo es lang geht. Seit sie ein Kind ist, kennt sie diese Wälder. Zwischen den Wurzeln und Trampelpfaden tanzte sie sicher umher, auch wenn ich mehr als einmal stolperte. Wie konnte sie es nur fast zwei Jahre im grauen Tokyo aushalten? Sie lächelte wieder und meinte, dass Finnland zwar sehr schön ist, aber auch tierisch langweilig. Seit sie ein Kind ist, kennt sie eben diese Wälder.

Ich blieb regelmäßig stehen, um Bilder zu machen. Tiinas Vorsprung vergrößerte sich mit jedem Foto. Aber solange rechts das Wasser und links der Forst war, ging es noch.

Irgendwann hatte sie der Wald verschluckt. Ich rief mehrmals und irgendwann entdeckte ich sie dann. Frech grinsend und zufrieden mit all der Natur.

Der Schützengraben

Wir waren bereits einige Stunden unterwegs. Plötzlich stießen wir auf einen Graben, der mit groben Steinen aufgeschüttet war. Eindeutig von Menschenhand gemacht. Von der Zeit vergessen und überwuchert mit Moos.

Tiina erklärte mir, dass dies ein alter Schützengraben ist. Ausgehoben im 2. Weltkrieg, versteckt im Wald und mit Blick nach Osten. Falls die Russen vom See her angreifen sollten. Bis heute ist die versuchte Invasion der Sowjetunion im 2. Weltkrieg nicht vergessen, der direkte Nachbar bleibt suspekt.
Bis zum Ende des Krieges galt Mäntyharju als geheime Militärbasis, auch wenn hier kein einziger Schuss abgefeuert wurde. So erklärte es auch eine verwitterte Tafel neben dem Graben. Fasziniert von diesem Stück Geschichte wanderte ich auf den groben Steinhaufen entlang. Tiina nahm eine andere Route.

Gebaut für den Krieg, erobert sich die Natur den Graben trotzdem zurück. Er hätte vielleicht die Russen gestoppt, aber niemals Moos und Pilze.

Ich hatte Tiina wieder aus den Augen verloren. Erst beim Blick Richtung Sonne entdeckte ich sie. Sie simste ihren Freund.

Oben auf dem Hügel war ein Rastplatz für Wanderer, mit Aussicht und Gästebuch.

Doch wir waren noch längst nicht da, wo wir sein wollten.


Das Bild ist übrigens bis heute mein Desktop-Hintergrund

Kurzzeitig hatten wir uns verirrt. Wir hatten zwar einen Weg gefunden, aber es war anscheinend der falsche. Tiina navigierte nach Gefühl, nicht nach Karte.
Wir gingen wieder zurück, bis sie irgendwann meinte, dass es hier runter geht. Es gab keinen Weg, nur eine Markierung am Baum. Und viel Holz um uns. Tiina marschierte voran, ich hinterher. Nebenbei blieb ich ab und an mal stehen und fotografierte. Als ich mich dann wieder umdrehte, war Tiina weg. Überall nur Bäume. Und kein Weg.

Ich rief. Keine Antwort. Nur Echo. Ich lief weiter in die Richtung, die am wenigsten Hindernisse bot. Vielleicht war es ja der richtige Weg. Ich rief in den Wald. Nix.

Irgendwann hörte ich dann jemand nach mir rufen. Ich kämpfte mich durchs Unterholz zur Quelle der Stimme und da stand Tiina und winkte vergnügt. Gleich sind wir da, sagte sie.

Ich vertraute auf ihren Instinkt und packte die Kamera erstmal weg. Die erste Speicherkarte war eh voll und ich hatte nur noch eine weitere dabei.

Den Hügel hinab, Richtung Ufer, dann fanden wir den Ort, den Tiina versprach. Es war wunderschön.

Es war ein Grillplatz mitten im Wald, mit Hütte und Aussicht. Wir waren mindestens zwei Stunden von der nächsten Straße entfernt und eine halbe Stunde vom letzten Waldweg.


Links ein Klo, rechts Holzscheite zur freien Verfügung.

Der See erstreckte sich vor uns und wurde nur von vereinzelten Waldufern unterbrochen.

Tiina holte die Verpflegung raus und begann den Grill anzuwerfen. Sie hatte an alles gedacht. Grillanzünder, Feuerzeug, Fleisch, Besteck, frischen Tee und sogar Tassen aus Holz. Echt finnisch. Als sie den gesamten Inhalt ihres Rucksacks in der Hütte vor dem Grill ausbreitete, fühlte ich mich direkt etwas schlecht. Das Gewicht meiner Kamera war nix dagegen.

Ganz beseelt nahm ich Platz. Wir waren alleine hier, mittem im Wald. Weit weg von Hannover, von Kopenhagen, von Helsinki. Die Sonne ging langsam unter, als wir am Ufer des Sees saßen. Das Feuer knisterte. Ich packte die Kamera weg. Den Moment wollte ich selbst abspeichern, er sollte nur mir gehören.

Am anderen Ufer zog der Regen der letzten Tage weiter.

Tiina konnte das nix anhaben. Wir räumten auf und gingen durch den Wald zurück.

Die Sonne war nun weg und meine Speicherkarten voll. Kein Grund mehr für Fotos. Aber eins musste ich noch machen, weil Tiina mich drum bat. Am Waldrand stand ein kleiner Fliegenpilz, den wollte sie unbedingt mitnehmen – als Bild.

Müde aber zufrieden kamen wir im Haus ihrer Eltern an. Am nächsten Morgen sollte bereits mein Flieger von Helsinki abheben. Ich setzte die Kamera ab und seufzte.

Als Dankeschön für die Gastfreundschaft der Eltern wollte ich ihnen ein Geschenk machen. Seit 30 Jahren haben sie kein Portrait von sich als Paar fotografieren lassen. Das Letzte war ihr Hochzeitsfoto. Mit den wenigen Speicherplatz in der Karte, den ich noch hatte, wollte ich ihnen eine Freude machen. Also durch den Garten, ab zum See. Die Sonne ging unter, wir hatten noch ein paar Minuten wunderschönes Licht. Ein bisschen friemeln, gucken, testen, verrenken und klack. Da war das Bild gemacht. Ich war zufrieden und zeigte es den beiden.

Nun sind Finnen bekannt als maulfaul und kühl oder distanziert. Seit 30 Jahren das erste Portrait und ihre Reaktion war: „Joa, nett.“ Ich zweifelte an mir. Zusammen mit Tiina warf ich noch einen Blick über den See, bis die Sonne hinter den Baumkronen verschwand. Ihre Eltern waren bereits drinnen, der Vater telefonierte und lief dabei durchs gesamte Haus. Ich goss mir ein Glas Moosbeerensaft ein. Tiina grinste die ganze Zeit und übersetzte, was ihr Vater machte. Der war nämlich so happy über das Foto, dass er gleich seine jüngste Tochter in Helsinki anrief um davon zu erzählen. Aber vor mir zeigte er das natürlich nur ungern. Es war mein letzter Tag in Finnland, aber nach dieser Szene verstand ich die Finnen besser als je zuvor.

Sterne überm See

Schon in der ersten Nacht im Haus von Tiinas Eltern fiel mir der Sternenhimmel über dem See auf. Ich war zwar todmüde und in 7 Stunden ging bereits mein Flieger, aber ich wollte nicht ohne ihn gehen. Ich lud Tiina ein, mit mir Sterne zu gucken. Sie hatte noch eine Hausarbeit für die Uni zu erledigen, und wollte dann nachkommen. Treffpunkt war der Steg. Ich ließ mir von der Mutter eine Taschenlampe geben und ging Richtung Sterne.

Ich merkte schnell, Sterne fotografieren ist nicht so ganz einfach. So ohne Stativ und alles. Zudem beobachten mich dabei die glühenden Augen einer Katze oder eines Fuchs.


Eine Chemiefabrik in Mäntyharju

Ich wartete in der Dunkelheit auf Tiina. Irgendwann fiel mir dann auch ein, dass ich ja bestimmt die einzige Taschenlampe des Hauses hatte. Wie sollte sie nun also durch die Dunkelheit kommen? Aber sie ist ja hier aufgewachsen. Kind der Natur. So ein bisschen Nacht kann ihr da bestimmt nix.

Irgendwann sah ich es am Ufer flackern. Sie hatte sich noch eine Fahrradleuchte organisiert und um den Kopf gebunden. Dazu sprach sie am Handy mit ihrem Freund. Sie hatte sich wohl doch in der Dunkelheit gegruselt und brauchte eine Stimme, die sie ablenkt. Auf dem See und unter den Sternen war das aber alles nicht mehr wichtig.


Ich bat sie, sich so für das Bild hinzulegen. Sonst hat sie natürlich mehr auf die Sterne, als ihr Handy geschaut.

Auf dem Weg zurück war sie dann nicht mehr alleine. Kurz vor ihrem Haus legte sie sich draußen hin. Sie wollte noch nicht rein, sondern mehr Sterne gucken. Ich legte mich auch auf den kalten Boden. Augen nach oben.


Die Milchstraße

In dieser Nacht zog ein Metoriten-Schauer an der Erde vorbei. Aber das sollte ich erst später erfahren. Während ich noch mit der Kamera hantierte, um ein Bild zu kriegen, zählte Tiina Sternschnuppen. Sie sah drei Stück. Ich sah keine einzige durch meine Kamera.

Mit dem Gesicht voran fiel ich anschließend auf das Bett von Tiinas Schwester. Der Vater würde mich in ein zwei Stunden zum Bus bringen, der mich zum Flughafen bringt.
Na dann kurze Nacht.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil