Sommertreff im Bahnhof Alexanderplatz

Der Bahnhof Alexanderplatz ist ein Bahnhof in Berlin, meiner Heimat, direkt beim Fernsehturm und der Redaktion der Berliner Zeitung, für die ich dort gearbeitet habe. Was hat nun Tokyo und Japan mit einem Sommertreff in Berlin zu tun?
Nun, dies hier:

Das hier ist ein Ausschnitt aus dem Anime-Film „Cowboy Bebop – Knockin‘ on Heaven’s Door“, der Kinofilm zum gleichnamigen und hochgradig genialen Anime Cowboy Bebop, einer Serie über Kopfgeldjäger in Raumschiffen, der in der Zukunft auf dem Mars und den Monden unseres Sonnensystems spielt.
In dem Ausschnitt läuft der Bösewicht des Films gerade auf den Bahnhof zu, an dessen Fassade die Deutsche Bahn auf einen Sommertreff im Bahnhof Alexanderplatz hinweist.

Für die, die das an dieser Stelle nicht genauso absurd finden, wie ich, fasse ich es nochmal zusammen: In der japanischen Originalversion, eines Anime-Spielfilms aus dem Jahre 2001, der auf dem Mars der Zukunft spielt, gibt es eine Szene, in der die deutsche Bahn auf ein Sommerfest am 28. und 29.08. in einem Bahnhof in Berlin hinweist.

Stellt sich die berechtigte Frage: Wie kommt das?

Es ist üblich, für Manga, wie für Anime-Zeichner, mal einen kleinen Trip zur „Inspiration“ zu machen, und zur Recherche in andere Länder zu fahren. Zumindest war das früher in den 80er und 90ern üblich, heutzutage fehlt das Geld, zudem finden sich zahlreiche Impressionen fremder Länder im Internet. Doch früher sind die Autoren, Regisseure und Zeichner eben nach Amerika oder Europa gefahren, zusammen mit ihrem Redakteur. In wenigen Tagen sammelte man dann Impressionen und Fotos für das eigene Werk, um es noch etwas exotischer und für den japanischen Leser interessanter zu machen.

Cowboy Bebop gehört zu meinen Lieblings-Anime, aufgrund der dichten Atmosphäre und spannenden Charaktere. Eine kurze Synopsis wäre, dass die Menschheit in der Zukunft die Erde verlässt und sich größtenteils auf dem Mars und den Monden unseres Sonnensystems niedergelassen hat, die allesamt klimatisch der Erde angepasst wurden. Reisen zwischen den Planeten und Monden findet im eigenen Raumschiff und mithilfe sogenannter „Gates“ statt. Das erste Gate war übrigens ein Fehlschlag, explodierte und machte die Erde so gut wie unbewohnbar, da ständig Brocken vom mit dem Gate explodierten Mond runterregnen.

Es geht aber nicht um Science-Fiction oder, wie es heutzutage gern üblich ist, darum, dass sich die Serie an der eigenen Geschichte aufgeilt und im Storytelling verheddert. Es geht um eine Gruppe von Kopfgeldjägern, die Kriminelle im Sonnensystem jagen, und dabei auch nur versuchen über die Runden zu kommen. Es muss nicht das ganze Universum gerettet, oder die korrupte Gate-Gesellschaft niedergebracht werden. Es geht nur um Menschen und ihre Probleme.

Die Menschen in der Welt von Cowboy Bebop sind sehr unterschiedlich, da alle verschiedenen Kulturen der Erde sich auf kleinen Vierteln in den Städten vom Mars ansiedeln, ihre Kultur bewahren und mit anderen mischen. Die Anime-Serie ist dabei sehr geprägt vom asiatischen Raum, der Film sehr stark von New York und dem nahen Osten.

Dieser Mix, der sehr authentisch dargestellt wird, schafft nicht zuletzt auch durch die absolut geniale Musik von Yoko Kanno diese dichte Atmosphäre. Meine gesamte Musiksammlung besteht zu 50% aus Musik von Yoko Kanno, die mit dem Soundtrack zu Cowboy Bebop ein absolutes Meisterwerk geschaffen hat.
Die Musik ist sehr wichtig in Cowboy Bebop, kommt doch allein der Titel von der Jazz Richtung ‚Bebop‚ und jede einzelne Folge ist verbunden mit verschiedenen Musikstilen z.b. Titel einer Episode ist „Heavy Metal Woman“, mit einer Frau die eben Heavy Metal hört.
Die spannendsten Momente sind allerdings die, wo keine Musik spielt, weil man da die Stille und das Nichtvorhandensein von Geräuschen sehr gut wahrnimmt und sich komplett auf die Handlung konzentriert. Anime heutzutage traut sich solche Aktionen nicht mehr, da wird alles durchorchestriert oder mit künstlichen Pop unterlegt.

Nebenbei war Cowboy Bebop maßgeblich dafür verantwortlich, Anime in den USA populär zu machen. Die deutsche Version, die auf MTV lief, hatte auch eine ausgezeichnete Synchronisation.

Jedenfalls: Ich erwähnte eingangs, dass Autoren zur Recherche gern mal verreisen. Um nun all die verschiedenen Kulturen und Aspekte der Welt von Cowboy Bebop darzustellen, sind die Autoren vermutlich auch durch Europa und Amerika gereist. Sehr wahrscheinlich auch durch Berlin, wo sie ein Foto von dem obigen Schild gemacht haben. Denn tatsächlich gab es mal ein Sommerfest im Bahnhof Alexanderplatz, am 28. und 29. August, und zwar im Jahre 1998, wie dieser Artikel beweist:

Der Bahnhof als Spielplatz für die ganze Familie
Sommertreff am Alex
Peter Neumann

Bahnhofsfest, Draisinentreff und Baustellenbesichtigung: Für all jene, die ein Faible für die Bahn haben, stehen die Signale vom kommenden Wochenende an wieder auf grün. Am Sonnabend und Sonntag bietet der Bahnhof Alexanderplatz außer Fahrkartenschaltern und Geschäften auch eine Hüpfburg für Kinder, Clown-Theater und Rockmusik. Von jeweils 10 bis 20 Uhr laden die Deutsche Bahn und die Ladeninhaber im Bahnhof zum „Sommertreff“ ein. Eine Tombola lockt mit vielen attraktiven Preisen.

Auszug aus der Berliner Zeitung vom 27. August 1998

Ein Sommertreff im Bahnhof Alexanderplatz ist keineswegs eine jährliche Veranstaltung, es ist also sehr wahrscheinlich, dass es exakt diese war.

Der Anime lief 1998, also wurde er 1997 produziert. Der Kinofilm, aus dem der obige Ausschnitt stammt, wurde 2001 gezeigt, also 2000/2001 produziert. Meine Vermutung ist nun folgende: Nach dem Beginn der Ausstrahlung im April 1998, machten sich einige aus dem Produktionsteam im Sommer auf die Reise, sammelten Eindrücke, die sie allerdings nicht alle in der Serie genutzt haben, da diese hier mit schwächelnden Quoten zu kämpfen hatte. Als dann grünes Licht für den Film gegeben wurde, wurden nochmal die alten Aufzeichnungen rausgekramt und eben nach etwas gesucht, was exotisch aussieht und die Welt des Films noch etwas bunter macht. So haben wir auch den Hinweis auf den Sommertreff und ein franzöisches Werbeschild, dass auf Angebote im Frühling hinweist („les soldes du printemp“), im selben Ausschnitt.

Gestern habe ich den Film mir nach langer Zeit wieder angeschaut, doch schon vor ein paar Jahren, als ich das erste Mal den Film sah, habe ich das Schild entdeckt, und wollte vielen von dieser absurden Randnotiz erzählen. Mit nem Blog zu Japan und seinen Absurditäten habe ich nun die perfekte Möglichkeit dazu…

PS: Cowboy Bebop soll demnächst von Hollywood verfilmt werden, mit Keanu Reeves in der Hauptrolle. Das das auch nicht nur annäherend so gut und bedeutsam wird, wie der Anime, ist klar. Die größere Frage ist nur, ob der Film dann auch auf den Sommertreff im Bahnhof Alexanderplatz hinweist…