Komponieren statt studieren

In diesem Sommer war ich wieder bei einem Konzert von jungen Bands in Tokyo. Die Kamera war mit dabei und diesmal auch ein Aufnahmegerät. Ich traf auf viele junge Talente und auch auf ein bekanntes Gesicht.

Als ich noch in Tokyo lebte, habe ich eine junge Sängerin kennengelernt, habe sie und ihre Band über das Jahr begleitet, bis es schlussendlich zum Abschlusskonzert und dem Ende der Band kam. Bei meinem Besuch jetzt im Sommer lud sie mich zum Konzert ihrer neuen Band ein.

In einem Live-House-Club, in einem Keller irgendwo im Osten vom Stadtteil Nakano, begann am frühen Abend eines Samstag im August das Konzert. Tokyo’s Sommerhitze spürte man hier unten auch noch deutlich.
Als ich meine reservierte Eintrittskarte bezahlen wollte, wusste man schon meinen Namen, bevor ich ihn sagen konnte. Blonde Ausländer verirren sich nicht häufig hier runter. Kurze Zeit später schallte mein Name auch durch den ganzen Club, als Sayuri mich entdeckte.

Sie ist immer noch so fröhlich und voller Energie wie früher. Hektisch stellte sie mich den irritierten Gästen als Fotograf aus Berlin vor. Ich überreichte ihr Mitbringsel aus Deutschland: Schokolade und die Kopie eines Magazins, in dem ich über sie und andere junge Bands in Tokyo geschrieben hatte. Meine Erfahrungen und Fotos der Band wurden diesen Juni in Deutschland abgedruckt, Sayuri erzählte ich davon aber nichts, da es eine Überraschung bei meiner Rückkehr sein sollte. Und was für eine Überraschung es war. Sonst immer fröhlich am plappern verschlug es der Sängerin Sayuri glatt die Sprache.

Sie war noch vertieft in den Artikel als ich in den neuen Mitgliedern ihre Band vorgestellt wurde. Kurz danach verschwand sie schon im Backstage-Bereich, um sich auf den Auftritt vorzubereiten. Das Magazin blieb vor der Bühne und verschiedene Künstler und Zuschauer versuchten die deutsche Sprache zu entziffern.

Bis zum Auftritt des ersten Solo-Künstlers füllte sich der Club nur langsam. Ganz voll sollte er nicht werden. Aber das Schicksal klein und unbekannt zu bleiben, und für ihre Auftritte selbst zu bezahlen, teilen viele junge Künstler in den Kellern von Tokyo.

Der erste Song war auch der einzige am gesamten Abend, den ich verstanden hatte:

Frei übersetzt:
“Mutter sagt: geh zur Uni; Vater sagt: geh zur Uni; Ich sage: keine Ahnung”

Er beschreibt da sehr schön den Widerspruch, den sich viele junge Künstler in Tokyo ausgesetzt sehen. Karriere oder Musik. Beides lässt sich selten verbinden, wenn man drauf besteht, seine eigene Musik machen zu wollen. So ist Sayuri auch Studienabbrecherin, die jeden Tag als erste im Büro ist und als letzte geht. Wo sie da noch die Zeit für die Musik findet, ist mir ein Rätsel. Seit 7 Jahren arbeitet sie so, die wenig freie Zeit, die sie hat, steckt sie in die Musik.

Er sollte am Ende des Abends noch mal einen Auftritt mit Band haben.

Die nächste Band war Tengoku (天国), was so viel wie Himmelsreich bedeutet. Erklärt auch, wo der Sänger seine Inspirationen herbekommt.

Die Band besteht aus zwei Leuten, Piano und Gesang. Sänger wie Musik waren sehr psycho. Er wechselte von sanften Sprechgesang zu Schreien, manchmal erzählte er nur eine Geschichte zu Klavierklängen, ein anderes Mal sang er von seinem Großvater und seinem Leben. Es lag eine merkwürdige Faszination über ihm und seiner Musik, gepaart mit einem starken Piano. Mein Lieblingslied des Abends stammte auch von ihm: ‘Ten’.

Will er sich das Ohr zu halten oder mit höheren Wesen kommunizieren? Bei ihm konnte man sich da nicht sicher sein.

In seinen Bewegungen schwankten immer zwischen Priester und Märchenonkel. In seinem gepflegten schwarzen Hemd bewegte er sich kaum vom Mikro weg und ließ von dort seinen Gesang wirken.

Der Priester verließ die Bühne und es wurde wieder schwarz. Mittlerweile hatte der Club die maximale Anzahl Zuschauer erreicht. Der nächste Auftritt war Sayuri. Sie hatte die meisten Fans.

Während sie zum Schluss eigentlich nur noch das einzige feste Mitglied ihrer alten Band FLAVA war, spielt sie nun zusammen mit vier anderen in ihrer neuen Band ‘sallie’. Größte Änderung ist die Addierung von Saori, der zweiten Sängerin und… Akkordeon-Spielerin.


Saori Backstage, vor dem Auftritt

Eine Japanerin und ihr Akkordeon. Wie es dazu kam erklärte sie mir vor dem Auftritt: Ihr Großvater spielte früher das Instrument und als er starb, verstaubte das Gerät auf dem Dachboden. Sie hat es hervorgeholt und sich das Spielen beigebracht. So spielt ihr Großvater zusammen mit ihr auf der Bühne.

Der Auftritt von sallie begann mit einem lauten Knall, in dem alle Instrumente und Stimmen unisono ertönten. Das gab gleich die Richtung für die folgenden Songs vor und machte den Unterschied zu Sayuris alter Band deutlich. Während FLAVA noch etwas ruhiger, melancholischer und bedachter spielte, ist sallie etwas rockiger, schneller und vorallem lauter. Damit nähert sich Sayuri an eine weitere junge Band in Tokyo an: salparadise (Affenparadies), wo Sayuri im Background singt. Diese Band hatte inzwischen auch schon sein zehnjähriges Bühnenjubiläum. Zehn Jahre auf den kleinen Bühnen von Tokyos Kellern.

Die Entscheidung, eine zweite Stimme auf die Bühne zu holen, war keine schlechte. Auch wenn Saori etwas besser singt.

Und inmitten von allem: das Mädchen und ihre Ziehharmonika.

Wenn nicht gespielt wurde, konnte man sehen, wie sie das Akkordeon immer fest an sich drückte. Vielleicht damit es nicht herunterfällt. Aber vielleicht auch in Erinnerung an ihren Großvater.

Die Richtung, in die sallie will, ist klar. Immer höher und irgendwann vielleicht aus dem Keller raus.

Und mit dem Schlussakkord im Rampenlicht…

…endete der Auftritt von sallie.

->Weblink: sallie Homepage

Ich wusste zuerst nicht, ob man mich und mein Mikro erlauben würde. Urheberrecht und so. Und manchmal hat auch der Club-Betreiber was dagegen. Doch als ich mein Mikro Sayuri zeigte, sagte sie nur Danke und umarmte mich. Ich nahm das mal als Pressegenehmigung.

Das letzte Konzert, was ich als offizieller Fotograf fotografierte, war noch vor einem Jahr in Japan. Konzertfotografie begeistert mich schon sehr, aber es ist auch sehr schwierig. Die Lichtverhältnisse sind schlecht und ändern sich fortlaufend, die Bewegungen auf der Bühne sind schnell. Ich machte an dem Abend viele verwackelte Bilder, bis mir dann auffiel, dass mein Fuß zur Musik mittanzte. Es ist schwierig gute Bilder machen zu wollen und gleichzeitig die Musik zu genießen.

Auf der Bühne passiert immer so viel! Ein wunderbares Schauspiel von Emotionen und Kreativität. Jeden Moment möchte man da als Fotograf mitnehmen. Vorallem geht man danach, was visuell interessant ist. Das Mädchen und ihr großes Akkordeon war zum Beispiel ein visuelles Bonbon auf der dunklen Bühne. Sänger und andere Künstler machen es einem ja generell zum Glück leicht, indem sie sich extrovertiert kleiden und geben.
Bei den Auftritten der kleinen Bands bin ich auch als Fotograf relativ unmittelbar nah an den Künstlern. So nah, dass sie manchmal das Klicken meines Auslösers irritierte.

Nach einer Umbaupause, überbrückt mit Beatles und Rolling Stones aus den Lautsprechern, kam der Auftritt von der nächsten Band, haikarasan (はいからさん), die sich musikalisch und leicht optisch bei beiden orientierte, ohne jedoch in ihren Songs genau so interessant zu sein. Die Namen von japanischen Bands zu übersetzen ist immer recht schwierig. Ich kann mir noch zusammenreimen, dass haikara japanisch für Highcollar sein soll, was so viel wie modisch bedeutet, bzw. sich in den schicksten westlichen Klamotten zu kleiden.

->Weblink: haikarasan Homepage

Die folgende Band, ‘walking down by low’, gab sich mehr Mühe. Der Lead-Singer rockte das Mikrofon und sein flamboyanter Gitarist lächelte selig.

Der Lead-Singer kam nach dem Konzert nochmal auf mich zu, hackedicht, wie das eben bei Sängern Pflicht ist. Er hat drei Jahre in L.A. gelebt und probierte sein Englisch bei mir aus. Trotzdem er betrunken war, sein Englisch war noch mehr als passabel.

Sänger “Mit welchem Visum bist du hier?”
Ich “Diesmal? Mit einem Touristen-Visum, das heisst ich muss bald weg.”
Sänger “Scheiss auf dein Visum! Ich hab drei Jahre in den USA ohne Visum gelebt!”
Ich “Ja, aber kannst du jemals wieder in die USA einreisen?”
Sänger “….”

Er schwieg nur, aber es war klar, dass er das nun nicht mehr kann. Und das würde ich für Japan sehr gerne vermeiden…

-> Weblink: walking down by low myspace

Auftritt der letzten Band und ein Wiedersehen mit dem Solo-Künstler vom Beginn des Abends. Nun nannten sie sich ‘utsubo’

Er war jetzt weniger ruhig und bedacht in seinen Songs, es wurde rockiger und auch er ging mehr ab.

Und falls ihr euch fragt, wo sein Fuß ist, der ist nicht abgeschnitten sondern nur im nächsten Foto gelandet.

Eine Dame am Bass sieht man auch selten.

Er wurde von allen nur ‘Onkel’ genannt, eine Anspielung auf sein Alter. Trotzdem respektierte ihn alle, und er brachte auch als einziger vermehrt ernste Inhalte in seinen Texten unter. Es ging darin um Leute, die ihm ständig sagten, dass man mit Kunst kein Geld verdient und um persönliche Freiheit im Leben. Nur einmal wurde es eindeutig politisch. Ich konnte zwar nicht verstehen, worum es genau ging, aber ‘Genpatsu’ – Atomkraftwerk fiel einige Male.

Der Abend endete mit John Lennon’s ‘Power to the People’, in das die Band und Zuschauer einstimmten. Danach war es auch genug Politik für einen Tag in einem Keller in Tokyo.

->Weblink utsubo Homepage

Ich drückte auf den “Aufnahme beenden”-Knopf auf meinem Mikrofon. Seit Beginn des Konzerts vor vier Stunden lief der Zähler. Per Knopfdruck rechnete das kleine Gerät alles ins mp3 Format um. Zwei Stunden und eine entleerte Batterie später war es damit auch fertig.
An der Theke bestellte ich noch ein wirklich exzellentes Sandwich während ich auf eine Gelegenheit wartete, nach einem Jahr mal wieder mit Sayuri zu reden. Sie hatte vorher noch Fans, Kollegen und Bekannte zu versorgen. Wie immer gab sie sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen, wie erschöpft sie doch war, doch wenn sie sich unbeobachtet fühlte, konnte man es sehen.
Auch wenn mein Japanisch verglichen mit einem Jahr zuvor besser geworden ist, so hatte ich doch Probleme, sie zu verstehen. Sie plappert fröhlich und schnell vor sich hin. Nur als ich sie bat, Rücksicht auf blonde Ausländer zu nehmen, schraubte sie etwas verlegen ihr Tempo runter.
Wie schon ein Jahr zuvor lud sie mich zum Essen ein, doch dazu sollte es, wie schon ein Jahr zuvor, nicht kommen. Dafür ist sie einfach zu beschäftigt. Wie sie überhaupt alles so schafft ist mir ein Rätsel.

Wir waren beide müde als wir uns verabschiedeten, doch nur mir sah man es auch an. Ich winkte im Vorbeigehen dem Lead-Singer noch zu, doch der war gerade dabei einen weiblichen Fan zu bequatschen. Mit Erfolg, wie es schien.

Ich verließ den Keller und sagte Tschüss zur Musik. Hoffentlich nicht wieder für ein ganzes Jahr.

5 thoughts on “Komponieren statt studieren”

  1. Hey Fritz! Nach längerer Zeit meiner Abwesenheit wollte ich mal wieder vorbei schauen ^^
    Schöne Bilder und ein super Beitrag! Und ich war immernoch nicht in Japan 🙁

  2. […] die ich noch von ihrem Austauschsemester in Hannover kannte, singt in einer Band. Nachdem sie meine Fotos von den Konzerten von Sayuri und anderen Bands in Tokyo gesehen hatte, bat sie mich, auch ihren Auftritt zu fotografieren. […]

Leave a Reply to Mai Mergili from PENCIL PILLOW Cancel reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *