Im Tal der Puppen

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Ayano Tsukimi (64) lebt in Nagoro, einem Dorf im östlichen Iya-Tal. Nur noch wenige Menschen leben hier. Für die Bewohner, die sterben oder wegziehen, fertigt Ayano Tsukimi lebensgrosse Puppen an und stellt sie an den Orten auf, die für diese Menschen wichtig waren. Ihre Puppen findet man verteilt im ganzen Tal.

Sie ist verheiratet, ihr Mann und ihre Tochter leben aber getrennt von ihr in Osaka. Mit ihrem 83 jährigen Vater lebt sie alleine im Haus ihrer Familie.

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Endlich Finnland Extra: Das Saunamobil

Ich saß in der Mitte der Sauna. Neben mir zwei dicke Finnen, von denen einer aussah wie der Weihnachtsmann. Er reichte mir eine Flasche Wodka, inzwischen schon halb leer. Das Radio spielte Bohemian Rapsody von Queen. Nur ich sang.

Prolog
Schon seit längerer Zeit wollte ich ja meine Freundin Tiina mal in Finnland besuchen. Da ich kostspielige Reisen gerne mit nem Job verbinde, fragte ich sie direkt, ob ihr was einfällt, über das ich eine Geschichte machen könnte. Sie überlegte. In Lappland gibts Hexen, sagte sie, aber nach Lappland fliegen ist sehr teuer. Ja und ansonsten gäbs da noch einen Freund ihres Vaters. Der hat sich ne Sauna in sein Auto gebaut. Aber das ist ja nichts besonderes.

Die Finnen gelten ja allgemein als etwas verrückt, oder sonderbar. Selbst Finnen selbst sagen das über sich. Was ich sonst noch über die Finnen wusste: Sie lieben Sauna.
Die Geschichte, über einen verrückten Finnen, der sich ein Sauna-Häuschen in sein PKW baut, konnte also nur gut werden.

Eins aber schon mal vorweg: Ich habe keine Ahnung von Autos. Ich hab nicht mal nen Führerschein. Ich habe dafür eine Ausrüstung, die kostet so viel, wie zwei Mal Führerschein machen. Ich investierte mein Geld immer in Kameras und Reisen.

Ich tat mich also mit einem Kollegen zusammen, der damals noch als freiberuflicher Journalist für Automagazine arbeitete. Er lieferte die Kontakte zu den Magazinen und machte den Text im Duktus der Autozeitschriften. Ich sorgte für Recherche und Bilder. Vor dem Abflug gab er mir noch eine lange Liste von Hinweisen und von Motiven, die ich mitbringen sollte. Tiina übersetzte alles und stellte den Kontakt her. Sie musste dafür ja nur ihren Vater fragen.

Nach Feierabend sammelte uns Tiinas Vater ein, um uns zu seinem Freund zu fahren. Vorher machten wir noch beim Supermarkt Halt. Wodka kaufen. Aber nur guten Wodka, wie mir Tiina erklärte. Direkt aus Russland, das ja nur ein paar Kilometer entfernt war. Es ist so Brauch in Finnland, das man beim Saunieren Wodka trinkt.

Ich erzählte Tiina gerade, was ich mir für den Bericht überlegt hatte, als wir auf den Hof fuhren. Ich sprach den Satz gar nicht mehr zuende. Denn da stand es, das Sauna-Auto. Ein 1963er Skoda Octavia, mit einem kleinen Häusschen hinten. Ich konnte nur noch staunen.

Ein Hund begrüßte uns laut bellend, gefolgt von seinem Herrchen. Timo Ukkonen, 49, so alt wie sein Saunamobil. Er sprach kein Englisch, war aber sichtbar stolz auf sein Auto und das jetzt ein Fotograf aus Deutschland kam, darüber zu berichten. Es war bereits später Abend. Hätte sich die Sonne an diesem regnerischen Tag überhaupt einmal gezeigt, sie wäre jetzt schon hinter den Wäldern um Timo Ukkonens Haus verschwunden. Mit dem letzten bisschen Licht musste ich jetzt noch schnell arbeiten und alle Motive liefern, die gefragt waren.

Timo warf inzwischen schon mal die Sauna an.


Man bemerke die Scheinwerfer-Fensterscheiben

Es gibt ca. 100 Sauna-Autos in Finnland. Das hier ist das einzige, bei dem das Auto selbst die Sauna beheizt. Der Motor treibt einen elektrischen Generator an (der schwarze Klumpen vorne), der die Sauna erwärmt. Die Technik hat Timo selbst verlegt. Genau wie das Parkett. Es ist das selbe, wie in seinem Wohnzimmer, in dem wir für das Interview Platz nahmen. Das Holz stammte von einer Fichte aus seinem Garten.

Der Wassertank fasst 30 Liter. Genug für drei Saunagänge, inklusive Dusche, wie mir Timo erklärte. Er sagte mir auch, dass der Sitz aus Stein ist, “weil sonst der Arsch festklebt.”

Jedes Haus in Finnland hat eine Sauna. Und jede Sauna in Finnland hat einen kleinen Sauna-Kobold. Das Sauna-Auto natürlich auch.

Der sauna tonttu hält die Sauna ordentlich und sorgt für angenehmes Klima. Die Menschen bedanken sich bei ihm durch kleine Opfergaben, wie Öl oder Kräuter, die in eine Schale gelegt werden.

Läuft die Sauna, blinkt es rot über der Windschutzscheibe. Saunieren beim Autofahren ist möglich. Timo rät mir aber davon ab.

Und neben dem Tacho…

…ist die Wassertemperatur-Anzeige. Bis zu 110°C sind möglich. Für den armen Deutschen, ohne Sauna daheim, haben sie es aber runter gedreht.

Fahren darf man mit dem Auto offiziell zwar nicht, aber es gibt die Möglichkeit, beim finnischen TÜV so eine Tageserlaubnis zu beantragen. Die holt sich Timo Ukkonen auch stets vor der jährlichen Sauna-Auto Messe im 400km entfernten Teuva. Er fährt aber nicht die ganze Strecke damit, ein Truck zieht es bis dort.

Er drehte noch mal eine Runde für mich um sein Grundstück…

…und wir gingen ins Haus. Seine Familie war bereits versammelt. Alle schauten interessiert dem Interview zu, aber kaum einer sagte was. Nicht einmal Timo selbst. Die Finnen sind maulfaul, das merkte ich wieder mal. Ich musste ihm alles aus der Nase ziehen, brauchte mehrere Anläufe pro Frage. Tiina gab sich engagiert Mühe, meine Fragen beantwortet zu kriegen, trotzdem redete sie am meisten von allen Personen im Raum. Mein Notizblock füllte sich nur langsam.

Ich bin nicht der erste, der über sein Auto berichtet. Aus dem Nebenzimmer holte er einen Stapel von Zeitschriften, der Großteil finnisch. Eine große Boulevardzeitung in Finnland wählte sein Auto zu dem Verrücktesten im gesamten Land. Schon 1999 fing er an, daran zu bauen. Er bekam den 1963er Skoda Octavia günstig, aber in mittelmäßigen Zustand. Die komplette Rückbank fehlte. Timo Ukkonen schaute sich dann die Form an, überlegte, was man damit machen kann, und sein erster Gedanke war “Sauna!”.
Ich stelle mir gerne vor, wie ein schnauzbärtiger Finne, Ende 30, vor dem kaputte Skoda steht. Wie Wicki der kleine Wikinger reibt er sich die Nase, schnippt mit den Fingern und sagt laut in den finnischen Wald: “Ich habs! Sauna!!”.

Ich finde, es sagt viel über jemanden aus, wenn der erste Gedanke ist, sich ein kleines Häusschen mit Dach in sein Auto zu bauen.

Würde er es je verkaufen? Vielleicht für eine Million Euro? Timo muss lachen. Niemals. Aber für drei Millionen vielleicht. Für ihn ist das Auto auch noch nicht fertig. Er hat noch einige Ideen, was er verbauen möchte. Was genau möchte er nicht sagen. Die Sauna-Auto-Konkurrenz schläft sicher nicht.

Sein Saunamobil ist nur für Freunde, sagt Timo, er selbst benutzt es auch nur so vier Mal pro Jahr. Scherzhaft frage ich ihn, ob man mit dem Auto Frauen beeindrucken kann. Er antwortet nicht und schaut stattdessen vorsichtig zu seiner Frau, die links neben mir in einem Schaukelstuhl sitzt. Sie blickte zurück und sagte etwas strenges auf Finnisch. Tiina lachte, aber weigerte sich, es mir zu übersetzen. Nächste Frage.

Drei Leute passen in die Sauna. Ich frage seinen Sohn, der einigermaßen Englisch konnte, aber sich nicht traute, etwas zu sagen, ob er schon mal im Sauna-Auto saß. Ja, sagt er, ein paar Mal. Ihm gefalle sie viel besser, als die hauseigene Sauna. Der Dampf sei weicher.

Ich hatte, was ich wollte. Tiina, die die ganze Zeit rechts von mir saß, meinte, jetzt sollte ich mich ausziehen.

Timo lud mich und Tiinas Vater zusammen mit der Flasche Wodka in sein Sauna-Auto ein.

Die beiden saßen schon, als ich mit einem bunten Handtuch um die Taille und auf Flip-Flops durch den Regen zum Auto ging. Aus dem Häuschen dampfte es bereits. Die beiden gestandenen Finnen glänzten vor Schweiss. Es war nicht schwer, zwischen sie zu rutschen. Da saß ich nun. Mit zwei Finnen, die kein Englisch konnten. Backe an Backe.

Finnen mögen Sauna, weil es die Leute gleich macht. Ohne Uniformen, ohne teure Kleidung, ohne Rang ist man doch nackt und echt in der Sauna. So kommt man sich näher. Tiinas Vater reichte mir den Wodka. “Du musst ordentlich viel Wasser trinken, Fritz” sagte er mir, schelmisch grinsend. Und es brauchte nur etwas Wodka, schon sprach er ordentlich Englisch. Selbst Timo drehte jetzt auf. Da ich in der Mitte saß, machte die Flasche oft bei mir Halt. Und ich hätte nicht gedacht, was für eine lustige Unterhaltung ich mit zwei Finnen in der Sauna haben kann.

Ich trinke übrigens selten Alkohol. Bier mag ich nicht, und pro Woche einmal besaufen muss auch nicht sein. Was ich, wenn ich trinke, gerne trinke, ist allerdings tatsächlich Wodka. Den vertrage ich auch ganz gut. Liegt wohl in der Familie, oder an der ostdeutschen Prägung. Trotzdem musste ich nach ca. einer halben Stunde in der Sauna kapitulieren. Die Hitze und der Wodka in Kombination. Das war zu viel. Die beiden Männer lachten, als ich die Tür öffnete und Richtung Haus torkelte. Sie machten ohne mich weiter.

Kalt geduscht und wieder angezogen, nahm ich zutiefst entspannt und zutiefst betrunken wieder auf der Couch neben Tiina Platz. Die grinste mich die ganze Zeit nur an. Ich krieg nicht mehr genau zusammen, was dann passierte. Ich weiß nur, dass ich irgendwann anfing, mit der Tochter von Timo zu flirten, die kurz zuvor vom Sport kam und mich die ganze Zeit ansah.

Ich muss wohl auch ein Foto der Katze gemacht haben. Warum auch immer.

Mit der Kamera bin ich dann noch mal raus. Tiina hatte sie sich frecherweise vorher schon geborgt, und kam vorbei, als ich noch mit Timo und ihrem Vater in der Sauna saß. Durch den Dampf konnte sie allerdings kein scharfes Bild machen, also brauchte ich noch eins. Ich klopfte kurz an die Tür der Sauna, bevor ich sie öffnete. Die beiden Männer hatten sich inzwischen ihrer Handtücher entledigt. Die Flasche Wodka war leer. Als sie die Kamera in meiner Hand sahen, drückten sie die Beine ganz schnell wieder zusammen. Es macht fast synchron Flopp, als die nassen Schenkel aneinander klatschten. Sie fragte mich noch, ob mit mir alles okay ist, und ich glaube sogar, ich hab auf Finnisch geantwortet. Oder etwas, was ich in dem Moment für Finnisch hielt.

Mit der Kamera fest in beiden Händen torkelte ich wieder zurück. Ich glaube seit dem Abitur war ich nicht mehr so betrunken gewesen. Es war weniger die Menge des Alkohols, oder der starke russische Wodka. Es war die Hitze, die es schnell in den Kopf beförderte.

Irgendwann liefen dann zwei nackte Finnen im Wohnzimmer an mir vorbei, Richtung Bad. Über eine Stunde hatten sie es ausgehalten.

Tiina, die nüchtern blieb und zum Glück nen Führerschein hatte, fuhr uns dann nachhause. Aber nicht ohne vorher noch von mir ein Foto zu machen.

Die Geschichte wurde Ende letzten Jahres in der Skoda Extratour (PDF) und im April diesen Jahres in Auto Bild Klassik veröffentlicht. Danke an David Zwadlo dafür!

Mit der Geschichte, und dem Job für die Bahn, konnte ich nicht nur alle Kosten der Finnlandreise wieder einspielen, sondern hab sogar noch etwas Plus gemacht. Das ist nicht bei jeder Reise so und daher besonders glücklich.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

Endlich Finnland V: Schlaflos in Kopenhagen

Heimwärts.Die letzte Fahrt.
Vorher noch zehn Stunden lang Kopenhagen fotografieren. Ohne Schlaf.

Eine Stunde nachdem ich mich nördlich von Helsinki hinlegte, wachte ich schon wieder auf. Der Bus zum Flughafen fuhr in einer Stunde. Vorher noch packen, Zähne putzen, anziehen.
Das halbe Haus wachte wegen mir auf. Der Vater, weil er mich zur Busstation fuhr. Tiina, weil sie mich zum Flughafen begleiten wollte. Und der Hund, weil er mein Frühstück roch.

Im Auto konnte ich die Augen kaum offenhalten. Es zogen eh nur dunkle Bäume vorbei, kein gesunder Finne fährt um die Zeit durch die Wälder. Irgendwo in der Dunkelheit hielten wir dann. Hinter der Böschung liegt die Busstation, sagte der Vater, der zwei Tage zuvor noch mit mir in der Sauna Wodka trank. Aber es ist kalt draußen, wir warten mal lieber drinnen. Die Fenster waren beschlagen und bildeten kleine Bäche.

Teurer Transport durch die Nacht
Schwer rollte der Bus Richtung Helsinki um die Ecke. Er war überraschend voll. Tiina versuchte wieder den Trick, uns beide als finnische Studenten zu verkaufen. Doch jetzt, um vier Uhr nachts, wollte der Fahrer es genau wissen und prüfte meinen Ausweis. Hannover war keine Universität, die er kannte. Also bitte 40 Euro für die Fahrkarte.
So viel hatte ich nicht dabei. Tags zuvor probierte ich vergeblich noch in Mäntyharju alle Geldautomaten durch – in Finnland werden sie “Otto” genannt. Doch keiner funktionierte, da alle bereits geleert wurden. Otto hatte kein Geld mehr.

Tiina bezahlte für mich und wir nahmen hinten im Bus Platz. Eine Stunde könnten wir wohl noch schlafen, bis wir am Flughafen sind. Aber ich traue Bussen eh nicht, und schlafen kann ich in ihnen sowieso nicht. Tiina gelang das ohne Probleme. Ich musste sie wecken, als wir bereits 45 Minuten später am Flughafen standen.

Zum Abschied lachte sie nur. Wie die ganze Woche schon. Ich verzog die Miene, unsicher wann wir uns wieder sehen würden. Doch sie lachte. Weniger wegen des Abschieds, mehr wegen der gemeinsamen Zeit, die wir hatten. Wir haben fast jeden wachen Moment verbracht. Und auch wenn ich mir in diesem Moment mehr Schlaf gewünscht hätte, ich bereute keinen einzigen davon.

Diesmal war ich weniger nervös, als noch im Flughafen in Kopenhagen. Ein Ticket nach Dänemark hätte ich gern, sie brauchen doch sicher nur meinen Ausweis, wa? Kein Ding, schon tausendmal gemacht. Hier bitte, er glänzt auch extra für sie.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht.
Wer im Internet ein Ticket kaufte, kann es in Helsinki scheinbar nicht am Schalter ausgedruckt bekommen, sondern muss zu einer Maschine. Die funktionierte allerdings nur mit Pässen, oder den ganz neuen EU-Personalausweisen mit Chip. Beides hatte ich nicht. Also musste ich doch das Stück Papier mit meiner Ticketnummer rauskramen und mit der Hand eintippen.
Wie archaisch.

Fünf Uhr. Mein Flieger ging um sieben. Zwei Stunden übermüdet rumkriegen, ohne Lektüre oder Smartphone ist nicht einfach. Einschlafen, unter dem Risiko meinen Flieger zu verpassen, war mir zu heikel. Also mal links durch den Flughafen. Rechts durch den Flughafen. Sonnenaufgang. Reisegruppe von verwirrten chinesischen Senioren schnattert laut. Und dann endlich Boarding. Die 28 Chinesen nahmen meinen Flieger. Die Zahl weiß ich so genau, weil ich sie alle zählte. Was man eben so macht, wenn man sich langweilt. Chinesen zählen. Sie machten wohl grad eine Europa-Rundreise. Souvenirs aus Helsinki hatten sie schon dabei.

Beim Betreten des Flugzeugs musste ich kräftig gähnen. Der Pilot, der uns begrüßte, nahm das sehr amüsiert zur Kenntnis. Als ich in Kopenhagen von Bord ging, fragte er mich noch, ob ich inzwischen aufgewacht bin.
Nein.

Die Senioren hatten Eile, ihr Gepäck zu holen. Ich nicht. Schließlich musste ich noch zehn Stunden rumkriegen.
Mit den restlichen Kronen, die ich noch hatte, zog ich ein Ticket für die S-Bahn. Ab in die Stadt. Der Himmel deutete schon keine guten Bilder an.

Erst einmal Frühstück. Und Kaffee. Viel Kaffee. Dabei trinke ich sonst keinen Kaffee. Doch jetzt brauchte ich ihn. Unbedingt.
In einem kleinen Café ließ ich mich in einen weichen Ledersessel fallen. Mein Gepäck rechts von mir, die Tasse und das Croissant auf der linken Lehne. Im Café spielte “Paperback Writer” von den Beatles. But I need a break.

Ich ging meine Tickets durch. Von dem Fächer, den ich zu Beginn der Reise erhalten habe, war nur noch eine Fahrkarte übrig. Heimwärts. Die letzte Fahrt.

Ich kam ins Grübeln.
Wird das ab jetzt immer so sein? Reisen, Fotografieren, in fremden Städten Kaffee trinken?
Müde, wie ich war, konnte und mochte ich diesen Gedanken nicht bewerten. Aber es wurde mir klar: Warum ich jetzt hier sitze ist allein meine Schuld. Ich habe den Job aufgrund meiner Arbeit bekommen. Ich habe entschieden, wohin es gehen soll. Keiner hat es mir vermittelt, keiner für mich entschieden. Und das bedeutet folgendes: Es ist komplett reproduzierbar.
Es liegt in meiner Macht zu sagen, wohin ich möchte und was ich dort mache. Klar bin ich davon abhängig, am Ende jemanden mit Geld davon zu überzeugen, mir welches zu geben. Aber je länger ich diesen Quatsch nun schon mache, desto leichter fällt es mir. Und desto weiter geht die Reise.

Ich war überrascht, wie spät ich diesen Gedanken hatte. Denn um ehrlich zu sein, für Japan war mir dies schon immer klar. Wenn ich nach Japan gehe, weiß ich, ich kann mein Zeug loswerden. Wenn ich in Japan für Geschichten reise, dann nie, ohne die Ahnung, am Ende mindestens meine Kosten wieder reinzubekommen.
Für Deutschland probierte ich es gerade aus. Und jetzt auch noch Europa. Das war mir so nur noch nicht klar.

Mir war allerdings klar, wie müde ich war. Knapp neun Stunden hatte ich noch. Also erledigte ich erst mal meine Pflichten. Solange ich noch wach sein konnte. Zum Job gehörte nämlich auch Stadtbilder von Kopenhagen zu machen. Ich nahm mein Gepäck und zog durch die Straßen.

Kopenhagen ist nicht groß. Vieles, was ich eine Woche zuvor schon mit meiner Begleitung abgelaufen bin, sah ich jetzt wieder. Nur, dass ich alleine war. Und der Himmel grau.

Wo letzte Woche noch ein Jazzfestival mit Bier stattfand, war nur graues Pflaster. An der Straßenecke, wo letzte Woche noch eine Blaskapelle spielte, sammelten sich nur die Regentropfen.

In einer Kirche belauschte ich ein deutsches Pärchen, die in ihrem Reiseführer wühlten. Es sollte wohl gleich was großes passieren. Da, die Straße runter. Ich folgte ihnen mal.
Gemeint war die Wachablösung der königlichen Garde. Jeden Tag um 12 Uhr.

Riesenaufwand und Gedränge. Ich fand die vielen Touristen eigentlich spannender, als die Militärheinis.

Und alles stets bewacht. Bloß nicht aus der Reihe tanzen.

Wie die Beefeater in London, dürfen wohl auch diese Puschelmützen keine Miene verziehen. Touristen lichteten sich mit ihnen fröhlich ab.

Auch wenn die Männer selbst das wohl nicht so fröhlich macht.

Je näher ich den königlichen Gebäuden kam, desto strenger die Blicke der Soldaten. Aber ich hatte eh was ich wollte.
Wachablösung war jeden Tag um 12 Uhr. Noch acht Stunden Kopenhagen.


Urban Knitting?

Bereits im Zug nach Kopenhagen erzählten uns zwei betrunkene Dänen von Christiania, einem bunten “Hippie-Viertel” für Künstler.

Obwohl es mir als “so super frei für Künstler und so” angepriesen wurde – ich fand die Amtosphäre dort irgendwie angestrengt. Vielleicht schreiben alle Reiseführer über das bunte Christiania, und nun muss man dem Ruf gerecht werden. Oder ich war einfach nur verdammt müde vom Rumlaufen. Wahrscheinlicher ist Letzteres.

Ich lief vorbei an einer Kirche, die inzwischen eine Kunsthalle geworden war, und holte mir einen echten, dänischen Hotdog für 35 Kronen. Jetzt hatte ich nur noch fünf Kronen übrig, die ich auch behalten wollte, da mir die Gestaltung der Münze so gefiel.

Es war jetzt gerade einmal 14 Uhr. Der Tag wollte einfach nicht vergehen. Ich hatte alles wichtige fotografiert und keinen Speicherplatz mehr. Oder Lust. Oder Geld. Oder windfeste Kleidung.
In einer Kirche suchte ich mit meinem Gepäck Zuflucht. Hier war es wenigstens kostenfrei warm.
Zeit, die Fotos durchzugehen.

Als der Pastor begann sich wiederholt energisch in meine Richtung zu räuspern, zog ich von dannen. Ich war müde, mir war kalt, ich hatte kein Geld und kein Obdach in dieser Stadt. Also ging ich zum Bahnhof.

Die letzten drei Stunden verbrachte ich auf ner Bank zwischen Gleis 9 und 10. Schließlich sollte ich im Zug noch Bilder machen. Wenn das irgendwie noch klappen sollte, musste ich mich kurz mal ausruhen. Ich beobachtete Kopenhagen.

Die Kerle trugen keine Jacken, sondern entweder dünne Hemden mit kurzen Hosen. Oder dicke Pullis aus Wolle. Bestimmt mehrere Zentimeter dick, aus ganzen, zusammengepressten Schafen. Oder so. Ich hätte jetzt auch gern so nen Pulli, dachte ich fröstelnd. Die Mädels trugen auffallend oft schwarze Hosen unter einem Rock. Ich zählte 17 in einer Stunde.
Chinesen zählen klappte hier in Kopenhagen nicht.

Dann kam der Zug. Ich suchte meine Kontaktperson, die über mein Kommen informiert sein sollte. Bis heute war ich fünf Mal in der Bahn fotografieren. Nie wusste einer Bescheid. So auch nicht in Kopenhagen. Aber problemfrei akzeptierte man meine Unterlagen und gab mir ein Zimmer. Nur der Zugbegleiter in meinem Abteil nahm es ganz genau. Er überprüfte auch Personalausweis und meine Kamera. Er folgte mir auch durch jedes Abteil, als ich Bilder machte, und verlangte, die Fotos anschließend zu sehen. Er war erst zwei Jahre dabei, also noch jung und pflichtbewusst. Alle anderen Zugbegleiter, mit denen ich zu tun hatte, waren immer länger als sieben Jahre auf der Schiene. Da hieß es stets nur: Ja, passt schon.

Während es mir tagsüber in Kopenhagen noch sehr müßig fiel, mir Bildlösungen für eine Situation oder einen Ort einfallen zu lassen, ging es hier einfacher von der Hand. Ich machte alle Bilder einfach grafisch, brach sie runter auf Linien und Flächen. Ordnet man diese dann ordentlich an, bekommt man ein nettes Bild. Kein spannendes, aber ein sauberes. Für Spannung war ich zu müde.

Direkt nach der Abfahrt ging ein Alarm durch den Zug. Taschendiebe. Erwischt hat man keinen mehr. Wahrscheinlich ist der in Kopenhagen eingestiegen, einmal durch die Waggons, und dann wieder raus. Das gibt es auf der Strecke wohl häufiger. Ich schloss meine Kamera ein und ging zum Zugführer.

Auf meiner Liste hatte ich noch ein paar Fotos stehen. Allerdings, so war die Vorgabe, kann ich nur Bilder machen, wenn die Abteile leer sind. Und es waren alle voll, sagte mir der Zugführer. Ich war fertig.
Das erste Mal seit sieben Tagen war ich fertig.

Skeptisch nahm ich das zur Kenntnis. Die ganze Woche hatte ich noch Sachen im Hinterkopf, die erledigt werden wollen und nicht vergessen werden dürfen. Der Hinterkopf war leer. Ich kramte nach. Wirklich nichts vergessen? Alles gemacht? Alles fotografiert?
Ich war von der neugewonnen Freizeit etwas überfordert und legte mich hin. Mein iPod spielte Beatles. Come together, right now. Over me

Kurz vor Schleswig-Holstein schlief ich ein.

Ein Stopp in Hannover gibt es auf der Strecke eigentlich nicht. Aber da dort eh gehalten wird, um die Brötchen fürs Frühstück mitzunehmen, konnte ich die Zugbegleiter überzeugen, mich 2 Uhr nachts dort rauszulassen.
Ich nahm die letzte U-Bahn der Nacht zu meiner Wohnung. Im Kopf noch Helsinki, die Woche Finnland, das Roggenbrot im Zug. Am Abend wollte noch eine Kommilitonin vorbei kommen, nächste Woche war Abgabe für eine Hausarbeit. Und in vier Wochen würde ich schon wieder in Tokyo aufwachen und dort Kaffee trinken.

Epilog
Die Bahn war zufrieden mit meinen Bildern. Nachdem ich meine erste Auswahl abschickte, wollten sie noch mehr Fotos haben. Und selbst die, die ich aussortiert hatte, fanden sie dann gut.
Vorletzte Woche erreichte mich die Broschüre, in der sie einige der Fotos abdruckten. Zum Nachtzug gibt es gerade ne große Werbekampagne, in Bahnhöfen, auf Postern oder in Broschüren im ICE o.ä. Einige Bilder sind von mir, aber die gesamte Kampagne haben natürliche andere Fotografen gemacht. Ich bin da nur reingerutscht, meine Bilder kamen grad zeitlich passend.

Das ganze Ding war auf jeden Fall ein großer und wichtiger Schritt für mich als junger Fotograf. Sowohl als Referenz, als auch um meine Grenzen und Belastbarkeit auszutesten. Ich habe viel mitgenommen aus Finnland. Allen voran Tiinas Erkältung, die mich nach der ersten Nacht in Hannover erwischte.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil