Making of: Puppenschnitt Geheimnisse

Die Geschichte ist zwar nur 6:30 Minuten lang, aber trotzdem habe ich länger als einen Monat am Schnitt gefeilt. Hier nun ein paar Details, die beim Betrachten vielleicht nicht auffallen, die aber trotzdem enthalten sind.
Der Director’s Commentary sozusagen.


So sieht es aus, wenn man alle Clips und Töne über-, neben- und durcheinander schiebt. Sollte eigentlich sauberer sein, aber dem fertigen Film sieht man das Chaos ja nicht an…

Es ist immer so ein kleiner, magischer Prozess, finde ich, wenn aus Gedanken, Clips, Fotos und Tönen dann ein fertiger kleiner Film wird. Denn lange Zeit ist es erstmal nichts, nur ein paar Dateien.

Man kommt mit vielen Daten von der Reise zurück und muss alles soweit kondensieren, dass ein anderer die Geschichte versteht, ohne dass ich daneben stehe und alles erkläre. Auf dem Weg dahin kann viel schief gehen.

Ein Foto machen, das ist einfach. Kamera an und los. Beim Film kommt noch so viel mehr dazu. Mikros brauchen frische Batterien, das Aufnahmegerät noch zusätzlich Kabel und eine frische Speicherkarte. All den Kram schleppt man dann nach hause und hofft, dass auch ja alles drauf ist, denn man kann es nicht reproduzieren. Dann schnell zwei Backups machen, und am besten noch ein drittes, denn man weiss ja nie.

Langer Prozess

Weil ich so enttäuscht vom Dreh und dem Interview war, habe ich die Puppen lange Zeit unberührt gelassen. Erst Anfang Januar in Tokyo begann ich mit der Bearbeitung der Fotos und der Übersetzung des Interviews. Nach der Ausstellung im Februar stürzte ich mich dann vollends in den Schnitt. Jeden Tag 6-10 Stunden saß ich dann am Rechner, bewegte Clips und schrieb Untertitel. Montag bis Freitag saß ich in der Bibliothek der Uni, am Wochenende dann bei San Marco – einer Starbucks-Kopie mit anständigen Kaffee in der Hondori-Geschäftstraße in Downtown Hiroshima.

Beim Film kann so viel mehr schiefgehen als bei einem Foto, und nun merkte ich auch alle Fehler.

Der Ton war suboptimal. Ich hatte Mikros und Aufnahmegerät kurz vor meinem Abflug gekauft und vorher nicht so wirklich im Einsatz getestet. Manchmal wackelte das Kabel und somit der Ton. Manchmal quatschte ich in meinem Eifer auch der Dame ins Wort, sodass ich einige Passagen nicht nutzen konnte. Aber dem fertigen Film sieht man das alles ja zum Glück nicht an.

Ich hatte mehrere Varianten entwickelt, die ich immer wieder ausgebaut und verworfen habe. Von ursprünglich 8-9 Minuten konnte ich es gut runterkürzen auf 6:30 Minuten. Immer wieder schaute ich mir das Video von Anfang bis Ende an, änderte jedes kleine Element bis es mich nicht mehr störte.

Die erste Version war Mitte/Ende Februar fertig. Ich habe mir dann Feedback eingeholt und die Geschichte etwas ruhen lassen.
Im April setzte ich mich an die letzte Korrektur und die Geschichte war fertig.

Grundlegend habe ich bei dieser Geschichte versucht viel mit subtilen Elementen zu arbeiten. Einfach auch, weil ich keine andere Wahl hatte. Sie spricht viele Sachen nicht direkt aus, also kann ich sie nur andeuten und hoffen, dass der Zuschauer irgendwie versteht, was ich versuche ohne Worte zu transportieren.

Als ich angefangen habe, kurze Filme aus Interviews, Fotos und Videos zu schneiden, dachte ich der Schnitt dient nur dazu, das Material zu zeigen und Zeit zu füllen. Aber man kann so viel mehr damit erzählen.

Bevor wir chronologisch durchgehen, zunächst etwas allgemeines:

Warum?
Das ist die konkrete Fragestellung hinter dem Film, den ich versuche zu beantworten. Das “Wie” habe ich im vorigen Eintrag beantwortet.

Zunächst, warum ich die Geschichte gemacht habe:
Meine Oma ist mir sehr lieb. Sie ist 88 Jahre alt und gesund, aber da viele ihrer Freunde schon gestorben sind, spricht sie häufig vom Tod. Sie sagt beim Besuch immer sowas wie “Na, wer weiß ob wir uns wiedersehen…”
Noch nie ist jemand, der mir nahe stand, gestorben. Ich habe also noch keine direkte Erfahrung mit dem Thema Tod. Deswegen bin ich nach Nagoro gefahren, um vielleicht von der Dame etwas zu lernen, was ich nutzen kann, wenn es soweit ist.
Die stärksten Geschichten kann man erzählen, wenn man persönlich einen Zugang findet. Gleichzeitig hoffte ich auch etwas zu finden, womit andere vielleicht etwas anfangen und davon lernen können.

Der Film handelt nicht von der Dame oder von den Puppen. Es geht um große Themen wie Einsamkeit, Tod, oder Vergessen/Erinnern. Damit kann jeder etwas anfangen. Es sind universelle Themen. Das erklärt mitunter sicher den großen Zuspruch, welcher der Film hatte. Die englische Version steht derzeit bei fast einer halben Million Klicks. Für einen kurzen Dokumentarfilm ist das viel.

Die Frage ist auch: Warum macht sie seit zehn Jahren die Puppen? Ihre Antwort: “Es gab nichts zu tun”. Das stimmt natürlich nur bedingt. Denn der wahre Grund liegt tiefer. Ich habe versucht, durch den Schnitt eine Antwort zu geben, den sie mir im Interview nicht geben wollte.

Gleichzeitig wollte ich eine gewisse Ambivalenz erreichen. Alle Berichte über sie zuvor waren sehr eindeutig. Sie ist verrückt, sie ist einsam, die Puppen sind gruselig, und so weiter. Aber eine Geschichte hat niemals nur eine Seite.
Im fertigen Film wollte ich keine eindeutige Antwort geben, jeder konnte sich selbst seine Antwort suchen.

Gestaltung
Die Musik stammt von einem Senioren-Verein aus Hiroshima, bei der ein Opa einer Kommilitonin spielte. Ich wollte unbedingt Shakuhachi für den Film, das wusste ich schon von Beginn. Der Wald und der Wind im Film werden durch dieses japanische Instrument gut verkörpert. Ich habe also das ganze Konzert aufgezeichnet (vier Stunden) und dann das passende Stück genommen.

Die Geschichte musste unbedingt im Herbst stattfinden, da ich mit der Umgebung die Dame und das Thema charakterisieren wollte. Frühling wäre “Aufbruch” gewesen, Sommer “Leben” und Winter “Stillstand” – alles passte nicht. Herbst war von Anfang an geplant. So setzt allein schon der Hintergrund die richtige Stimmung.

Auch als Journalist kann man viel von Hollywood und seinen Techniken lernen. Den Ansatz mit “Charakterisierung durch Umgebung” stammt von Tim Burtons “Batman” von 1990, wo das düstere Gotham im Stile des Deutschen Expressionismus als Kulisse für die Seele von Bruce Wayne dient.

Aber nun von Anfang an:


Der Beginn muss gleich funktionieren, sonst schalten die Zuschauer online ab oder auf die nächste Website um. Erstes Bild ist ein leeres Puppenauge, das dir direkt in die Seele starrt. Der Wechsel von Schwarz auf Foto ist abrupt, ohne sanften Übergang. Dazu ein Ton der Spannung aufbaut. Die Idee dazu stammt wieder aus Batman, diesmal aus “Dark Knight”. Das erste große Bild im Film ist der Joker von hinten, Fokus auf der Maske. Die ganze Szene beginnt schon früher, mit einem langen Anflug. Aber dazu spielt eben auch ein Ton, der sich erst mit dem Joker auflöst. Man ist sofort drin im Film. Das gleiche habe ich hier versucht.

Hier sieht man zum ersten und einzigen Mal das Tal. Man sieht kaum Häuser und hört das Wasser. Man kriegt gleich ein Gefühl für die Isoliertheit des Ortes, ohne das etwas gesagt werden muss.

Übergang zur Person. Wir haben bisher nur Puppen und nen Fluss gesehen. Wir wissen noch nicht, wer hier überhaupt spricht. Um den Übergang vom Fluss zur Person einfacher zu machen und um gleichzeitig vorzustellen, wie sie lebt (z. Bsp. Feuer statt Elektroheizung) ein Detail.
Das waren die ersten Bilder, die ich filmte. Sie machte das Feuer und den Tee für uns. Das zweite Bild ist vor dem ersten entstanden, das eigentliche Feuer ist nämlich in der großen Öffnung, die beim zweiten Bild zu sehen ist.

Weil ich nur anderthalb Tage fotografierte, hatte ich echt wenig Material. Knapp 85% von dem was ich gedreht habe, ist im Film. Zum Vergleich: Im Projekt, an dem gerade schneide, sind es 15-20%

Es hat ewig gedauert, bis ich das Archiv-Material der Stromfirma bekommen hatte. Auf meine erste Anfrage reagierten sie gar nicht erst. Bei meiner zweiten Mail hieß es dann “Können wir nicht machen”. Eine Freundin, die bei der Stadt Hiroshima arbeitet und mit der ich drüber sprach, fühlte sich herausgefordert. Ein Anruf von ihr später hieß es “wir schicken das Material”.
Stellte sich heraus, dass sie seit Fukushima sehr viel vorsichtiger sind, was ausländische Journalisten und Bildmaterial angeht. Selbst auf Shikoku.
Digital hatten sie allerdings nichts mehr, ich musste alles scannen.

Jetzt sehen wir die Puppen zum ersten Mal in der Szenerie. Auch die Anzahl erstaunt. Die Musik setzt gleich zum ersten Mal aus, denn es ist das Ende vom ersten Akt, der Exposition. Danach wissen wir, wo wir uns befinden und mit wem wir es zu tun haben. Jetzt kann es tiefer gehen.

Denn es taucht zum ersten Mal etwas von der Einsamkeit in Nagoro auf. Das Bild ist auch das einzige von ihr, wo sie durchs Dorf geht. Da hatte sie grad die Schule abgeschlossen und wollte mich abholen, in der Hand ist noch der Schlüssel. Ich wusste, ich brauch das Bild, also musste ich schnell sein und hatte keine Zeit das Bild gerade einzustellen.

Das ist tatsächlich von meinem Hotelzimmer am nächsten Morgen mit dem Teleobjektiv gefilmt. Ich wusste, so ein paar Pflanzen kann man immer gut dazwischen schneiden. Merkt ja keiner wo es ist…

Die Musik löst sich im Windspiel auf. Dazu habe ich einen sehr interessanten Kommentar von einer Japanerin bekommen. Das Windspiel assoziiert man in Japan immer mit dem Sommer. Dass es hier im Herbst noch erklingt ist ein Symbol dafür, dass es schon “jenseits seiner Zeit ist”. Finde ich eine schöne zweite Ebene, welche die Botschaft des Films stützt, und die ich am Anfang gar nicht so gesehen habe.

In das Bild hatte ich mich etwas verliebt und einfach mal zwei Minuten lang drauf gehalten, ich weiss aber nicht, ob auch andere das darin gesehen habe, was ich sah. Das Bild ist eine Metapher für das Leben im Nagoro, daher auch geschnitten zu dieser Aussage. Es dreht sich im Kreis, aber nichts geht voran oder ändert sich. Jahreszeiten wechseln, aber das Leben hier ist doch irgendwo stillgestanden. Die Idee war, dass man ein Gefühl dafür kriegt, wie langweilig es hier oben doch ist.

Hier ein gutes Beispiel, was Untertiteln noch verändern können. Ich musste es verknappen, aber sie zählt hier noch auf, was sie alles angepflanzt hat. Ich konnte es aus dem Interview nicht ausschneiden, aus den Untertiteln aber schon.

Die Tasche und der Kram hinten ist meins, ich hab verpeilt es wegzuräumen. Na, ist hoffentlich keinem aufgefallen…

Hier auch, das ist mein Samsung Galaxy auf dem Tisch…

Das ist die Hand einer Besucherin, man erkennt es vielleicht am dicken Ring. Aber von der Puppenfrau gab es kein Bild, wo sie eine Puppe macht, obwohl es für die Geschichte wichtig ist. Sie ist direkt danach im Bild, also wird angedeutet, dass sie es ist…

Während des Interviews habe ich nicht viel verstanden, aber das schon: “Lippen” und “Augen”. Also war mir am nächsten Tag klar: Heute fotografierst du Gesichter! Ich hatte am Ende mehrere Dutzend, von denen ich dann die besten vier auswählte.

Im Hintergrund das Geräusch bin ich, wie ich “Fritz” an die Tafel schreibe.

Der wohl wichtigste Schnitt im gesamten Film und ein schönes Beispiel dafür, dass das Zusammenspiel aller Elemente viel mehr aussagen kann, als nur die Summe aller Teile. Hier beantworte ich die Frage nach dem “Warum”:
Ihre Mutter starb früh und sie ließ ein Kind einsam zurück. Die Einsamkeit und Traurigkeit von damals spiegelt die Einsamkeit von Nagoro und lässt vielleicht erahnen, warum sie seit 10 Jahren Puppen bastelt.

Kleiner Gag, den ich ganz gerne beim Wechsel von Foto auf Video mache. Im ersten Moment denkt man noch, es ist ein Foto, bis sich was bewegt.

Tatsächlich reagieren die Leute hier auch auf mich. Ich hab den Cut jetzt vorher gesetzt, aber sie winken mir im Video noch zu und signalisieren, dass ich das Peace-Zeichen machen soll.

Eine meiner Lieblingseinstellungen im gesamten Film. Man sieht, wie sie die Aufmerksamkeit sucht, aber durch ihr Schlucken sieht man auch, wie sie manchmal damit zu kämpfen hat immer das gleiche zu erzählen und ständig mit Fremden agieren zu müssen. Ich hab die Kamera einfach drauf gehalten, in der Hoffnung es passiert etwas. Es ist halt doch Glück manchmal.

Die Besucherin geht rechts aus dem Bild und im Rest des Film tauchen ab jetzt auch keine weiteren Personen mehr auf. Die Puppenfrau ist wieder alleine.

Bei den Filmen, die ich vorher gemacht habe, konnte ich oft beobachten, wie Leute nach Ende des Videos noch in den Bildschirm starren, weil sie das Gesehene noch verarbeiten. Das ist ein schöner Effekt und den wollte ich hier auch nutzen. Die Spannung, die aufgebaut wird, löst sich im Film nicht auf, es gibt kein konkretes Ende. Selbst in den Credits spricht sie noch weiter.

Die Credits sind irgendwie auch nur leere Namen und eigentlich nur für die von Bedeutung, die sie tragen. An dieser Stelle auch mal eine Auflistung:

Akari Matsumoto – Masterstudentin in Hiroshima. Sie gab mir die Tickets zum Shakuhachi Konzert, wo ein Verwandter spielte
Shikoku Electrical Power Inc. – Die Firma hinter dem Damm und Energie-Monopolist auf Shikoku
Ayano Tsukimi – die Puppenfrau
Yuki und Miki – siehe erster Eintrag.
Darunter sind die Namen von Yukis Eltern
Haruno und Moeko sind (ehemalige) Studenten aus Hiroshima mit sehr guten Englischkenntnissen. Sie haben die erste und zweite Version nochmal durchgehört, damit die japanischen Sätze auch Sinn machen. Machen sie zwar nicht komplett, aber die meisten verstehen es…
Und zum Schluss Michael Hauri von 2470media, von dem ich diese Art des Geschichtenerzählens gelernt habe und der nochmal vor der Veröffentlichung drüber geschaut hat.

Wie gesagt: Es geht nicht darum, dass der Zuschauer exakt so formulieren kann, was ich mir beim Schnitt gedacht habe. Es geht darum ein gewisses Gefühl auszulösen, einen Gedanken zu vermitteln ohne ihn auszusprechen.


Im letzten Teil geht es um der Veröffentlichungsgeschichte, wo es lief und wer es alles geklaut hat.

Making of: Im Tal der Puppen

Im November 2013 brach ich auf, ins Tal der Puppen. Im April 2014 veröffentlichte ich die Geschichte. Und im November 2014 erhielt ich in Frankfurt einen großen Preis dafür. Zeit für die Geschichte hinter der Geschichte

Achtung: Wer das Video bis jetzt immer noch nicht gesehen hat, sollte das jetzt tun – “Im Tal der Puppen” auf Vimeo

Die häufigste Frage, die mir zu der Geschichte gestellt wurde: Wie hast du das gefunden?
Die Antwort ist tatsächlich relativ unspektakulär. Seit meiner Zeit in Tokyo 2009-2010 verfolge ich Webseiten, Blogs, und Twitter zu Japan. Taucht da was interessantes auf, kommt es in eine Liste von “Geschichten, die man mal machen kann”. So fand ich 2010 einen Blogeintrag zu dem Dorf der Puppen. Der Eintrag auf Englisch wurde veröffentlicht im Blog der Tokyo Times, das Original gibt es nicht mehr, aber hier ist eine Kopie.
Lange Zeit war das die einzige englischsprachige Quelle für die Geschichte, und es wurden immer die gleichen Bilder daraus kopiert. Ich merkte damals schon, welchen großen Anklang die Geschichte fand, auch wenn ich den Artikel für nicht sonderlich gelungen hielt.

Als ich dann im Oktober 2013 nach Hiroshima gezogen bin, warf ich wieder einen Blick auf meine Liste der Geschichten. Shikoku, wo das Tal sein sollte, lag relativ nah, also ging ich die Geschichte an.

Die lange Fahrt bis zum Tal

Ich kann die Geschichte nicht erzählen ohne Yuki und Miki.
Beide verbrachten 2012/13 ein Jahr an meiner Uni in Hannover, als Teil des gleichen Austauschprogramms, welches mich nach Hiroshima brachte. In der Zeit traf ich allerdings nur Yuki, und auch nur einmal. Sie wollte eine Ausstellung in Hiroshima machen und suchte noch nach deutschen Fotografen. Yuki spricht kein Deutsch und schlecht Englisch. Sie war absolut froh, dass sie mit mir jemanden gefunden hatte, mit dem sie sich endlich einigermaßen normal verständigen konnte. Wir trafen uns auf ein Stück Kuchen.

Yuki ist eine begnadete Designerin mit riesigen Talent. Sie war mit Abstand die beste Grafikerin als sie noch in Hiroshima studierte und sie gewinnt regelmäßige Wettbewerbe mit ihren Entwürfen. Sie ist auch Sängerin ihrer Band und großer Fan der japanischen Idol-Kultur. Man sieht es ihrem Körper an. Aber die verlässlichste ist sie nicht.

Im Sommer 2013, vor meinem Abflug, sprach ich mit Yuki über diese Geschichte. Sie meinte nur “supercool!” und “ich stamme aus Shikoku! Ich werde dir helfen!”

Ich wollte die Geschichte unbedingt im Herbst machen, weil ich visuell diesen Zustand zwischen lebendig und tot transportieren wollte, welcher diese Geschichte ausmacht. Nachdem Yuki mich nun immer wieder hingehalten und den Termin für unsere Abfahrt verschoben hatte, setzte ich ihr ein Ultimatum. Jetzt oder nie. Zur Not mach ich es eben ohne sie.


Letzte Vorbereitung und Kameracheck in der Nacht zuvor

Das war an einem Donnerstag. Ich war morgens aus Tokyo zurückgekehrt und es war eigentlich auch geplant, dass wir an diesem Wochenende fahren. Donnerstag Mittag meinte Yuki noch, dass es wohl doch schwierig sei, aber am Nachmittag war sie dann mit dabei. “Soll ich noch jemanden mitnehmen um dir zu helfen?” fragte sie. Warum nicht. Also rief Yuki Miki an. Treffpunkt war Freitag morgen um 6:45 Uhr.

Auf die Insel

Miki hatte ich vorher ein paar Mal gesehen, aber viel wusste ich noch nicht von ihr. Sie ist DJ, liebt deutschen Techno, hat eine für Japanerinnen ungewöhnlich tiefe Stimme und dazu einen sehr trockenen Humor. Miki war pünktlich.

Der Bus sollte 7.09 Uhr nach Tokushima fahren. Doch selbst um 7 Uhr war Yuki nicht zu sehen. Miki kaufte mir schon mal ein Ticket. Ich hatte nämlich zu dem Zeitpunkt kein Geld dabei und keine Chance welches abzuheben. Meine Kreditkarte muss nämlich regelmäßig aufgeladen werden, was ich zwar zuvor tat, aber das Geld war noch nicht drauf. 7.07 Uhr, kein Geld, keine Yuki, aber ein Busticket, das mir Miki in die Hand drückte. Was nun.

Miki schubste mich Richtung Bus und meinte, ich solle schon mal fahren, die beiden kommen dann nach. Mit der dicken Kameratasche drückte ich mich am Fahrer vorbei, der schon etwas angepisst war, da er schon längst losgefahren sein wollte. Miki meinte noch kurz auf Deutsch, dass der Busfahrer “nicht freundlich” ist, da ging die Tür vor ihr schon zu. Etwas verwirrt setzte ich mich auf den freien Platz hinter den Fahrer. Der nuschelte daraufhin etwas energisch durch seinen Mundschutz. Ich sagte nur “Hai!” und setzte mich. Er nuschelte erneut, nun lauter. Jetzt verstand ich es auch. “Ich hab gesagt: Dort nicht hinsetzen!”. Ich trollte mich zum Ende vom Bus.

Es ging durch Täler, durch Berge, über viele Brücken und nach zwei Stunden war ich dann in Tokushima. Kaum war ich aus dem Bus, sprach mich eine japanische Frau an. “Du bist Fritz, richtig?”. Es war die Mutter von Yuki. Sie hatte ihre Eltern überzeugt uns ins Tal der Puppen zu fahren. Sie warteten nun auf uns in Tokushima, aber es war nur der Deutsche da.
“Yuki hat mich angerufen. Sie hat mit Miki die Fähre genommen, sie kommt in Ehime an. Wir fahren jetzt dorthin.”

Zum Verständnis: Shikoku besteht aus vier Präfekturen. Die Eltern stammen aus Ehime, das Tal der Puppen liegt in Tokushima. Die Eltern sind also aus Ehime nach Tokushima gefahren, um dann wieder zurück nach Ehime zu fahren um die Tochter abzuholen, nur um dann wieder zurück nach Tokushima zu fahren.
Yuki ist übrigens Einzelkind.

Die Eltern waren nicht sehr gesprächig. Der Vater ist in der Abfallsentsorgung tätig, die Mutter arbeitet auf dem Markt und hat sich extra für heute freigenommen. Beide haben nicht studiert, die Tochter schon – für knapp 6.000 Euro im Jahr. Aber so richtig Druck, was sie danach machen soll, machen sie ihr nicht.

Immer an der Küste entlang erreichten wir irgendwann den Hafen. Yuki verbeugte sich tief und entschuldigte sich fünf Mal. Miki grinste nur und holte schon mal die Kamera raus. Yuki hatte sich für die Fähre entschieden, weil diese schneller als der Bus war. Was sie nicht beachtete: Die Fähre ist doppelt so teuer und kommt an einer anderen Ecke von Shikoku an.
Am Abend zuvor bat ich Yuki mir die Interview-Fragen auszudrucken, welche sie übersetzen wollte. Ich fragte sie, ob sie das Papier dabei hat, weil mir noch ein paar Fragen eingefallen sind. Doch sie hatte die Fragen in der Fähre liegen lassen. Natürlich.


Bevor es losging, luden die Eltern noch schnell zum Udon ein

Das Idol und der Samurai

Im nächsten Conbini besorgten wir noch Proviant und druckten das Interview erneut aus. Bis zum Tal waren es noch ein paar Stunden, also nutzten wir die Zeit das Interview zu korrigieren.

Mit meinem begrenzten Japanisch schaute ich ab und an aufs Blatt und stellte selbst noch einige Fehler fest. Yuki erzählte in der Zwischenzeit von ihrem letzten Konzert und dem nächsten Auftritt, der im Dezember geplant war. Miki korrigierte mit ernster Miene und fragte ab und an, was ein Wort auf Deutsch heisst.

Nach drei Stunden Fahrt:
“Fritz, wann erwartet uns die Dame?”
-“Sie erwartet uns gar nicht.”
“…du hast sie nicht vorher angerufen…??”
-“Nein, ich weiss nicht einmal ob sie noch lebt.”
“Das heisst wir fahren seit Stunden komplett ins Ungewisse?”
Ich lächelte nur und sagte: “Richtig. Abenteuer!”

Das ist meine Auffassung von Journalismus. Einfach irgendwohin fahren und schauen was sich entwickelt. Alle Kontakte, Antworten und Termine vorher zu haben, das ist langweilig. Aber für Japaner, die alles immer gern dreimal abgesichert haben möchten, war das natürlich nicht einfach nachzuvollziehen. Yuki zeigte sich besorgt, ihren Eltern war es egal und Miki hob nur leicht die Faust und sagte trocken “Abenteuer.”

Die gesamte Autofahrt war tatsächlich sehr unterhaltsam. An der Tür saß Yuki, die sich mit einer Energie in Aufregung und Sorge stürzte, und sich dabei über jeden Fluss, Brücke und dörfische Landschaft kindlich freute. Und neben mir saß ein ernster Samurai, der manchmal nur mit der Augenbraue zucken musste, um eine Pointe zu setzen. Selbst wenn wir die Puppenfrau nicht gefunden hätten, der Roadtrip alleine war die Reise wert. Auch die Eltern freuten sich, mal einen Teil von Shikoku zu entdecken, in dem sie vorher noch nie waren.

Wir fuhren seit über einer Stunde durch das Tal. Die teilweise einspurige Straße am Berg entlang war leer und kurvig. Überall nur Berge, Wälder, Bäume, aber keine Puppen. Nach einer Kurve zu viel bat ich um eine Pause. Mir war schlecht und ich brauchte kurz frische Luft. Wir hielten zufälligerweise direkt neben dem Touristen-Informationsbüro vom östlichen Iya-Tal. Vielleicht wissen die ja was von den Puppen. Yuki und Miki gingen voran, ich folgte langsam. Beim Betreten hatten wir dann unsere Antwort.

Die Puppen sahen genau so aus wie die, die ich auf den Fotos gesehen hatte. Wir fragten die Dame im Büro, die ihren Kollegen holte. Ein lustiger Kauz. Es stellt sich heraus, dass er ein Freund der Puppenfrau ist. Er malte uns eine Karte. “Ohne diese Karte hättet ihr das Dorf nie gefunden” sagte er noch, als wir gingen.
Glück muss man haben.

Es dauerte noch mal ungefähr eine Stunde, bevor wir das Dorf erreichten. Yuki las ihren Eltern die Karte vor. Je näher wir Nagoro kamen, desto mehr Puppen tauchten links und rechts der Straße auf. Meine Aufregung wuchs. Ich konnte spüren, dass wir der Geschichte ganz nah waren.

Es gab zwar kein Ortsschild, aber als wir ungefähr den markierten Punkt auf der Karte trafen, tauchte rechts von uns ein Haus auf, vor dem sich unzählige Puppen befanden. “Wir habens!” rief ich von hinten und Yukis Vater fuhr zum Haus hinauf. Yuki und Miki waren nun auch von meiner Begeisterung angesteckt und stürmten hinaus. Wir sahen eine alte Dame, die einem älteren Paar etwas erklärte. Das musste sie sein.

Das lange Interview

“Hallo! Sind Sie Ayano Tsukimi?”
-“…ja?”
“Meine Name ist Fritz Schumann, ich bin Journalist aus Deutschland. Ich würde sie gerne etwas begleiten und einen Film über sie machen!”
-“……..in Ordnung.”

Zugegeben, für japanische Verhältnisse war das sehr direkt. Ich bin mit der Kamera direkt durch die Schiebetür ins Haus gefallen. Und sie war am Anfang auch etwas distanziert. “Ich habe gerade Gäste. Wartet mal zwei Stunden, dann habe ich Zeit für euch.”
Wir berieten uns kurz. Am Abend wollten Miki, Yuki und ihre Eltern eigentlich wieder nach Hause. Und es wurde bereits dunkel. Blieben wir nun alle oder kommen wir später wieder?
Yuki, angesteckt vom Abenteuer und meiner Begeisterung, redete auf ihre Eltern ein, während ich die Kamera aufbaute. Natürlich sagten die Eltern ja. Yuki und Miki wollten auch sofort damit anfangen, den Film zu machen. Ich bat sie aber erstmal mir aus dem Bild zu gehen.

Es dauerte keine 30 Minuten, da kam Ayano Tsukimi wieder zu mir, diesmal sichtlich freundlicher. Wir können das Interview jetzt machen sagte sie. Ich baute Ton und Technik auf.

Yukis Eltern befanden sich während des gesamten Interviews nur einen Meter von Ayano Tsukimi entfernt. Beide schliefen. Die lange Fahrt war dann doch anstrengend.

Das Interview lief schleppend. Es war mein erstes Interview in Japan und Miki stellte meine Fragen. Sie war absolut nervös, aber wahrte als echter Samurai die ernste Miene und blieb diszipliniert dabei. Yuki hielt das Mikro und schlief dabei fast ein.

Die Fragen, die bei Deutschen noch funktionierten, klappten bei ihr nicht. Direkten Fragen wich sie aus, auf andere Fragen antwortete sie nur vage. Teilweise musste ich eine Frage fünf mal stellen, bevor ich eine verwertbare Antwort bekam. Ich war nach dem Interview schon etwas enttäuscht.

Es sollte um das Thema Tod, Einsamkeit und Erinnerung gehen. Doch zitierbare Sätze gab sie mir kaum. Zudem verstand ich zu dem Zeitpunkt nur so ca. 30% der Antworten. Alle 20 Minuten tönte auch ein Alarm und wir mussten pausieren.
In dieser isolierten Region ist jedes Haus mit einem Nachrichtennetzwerk ausgestattet. Falls jemand vermisst ist, vor Unwetter gewarnt wird oder sonstiges. In den Nachrichten tauchten immer alte Damen auf, die verloren gingen oder wieder gefunden wurden. Yuki seufzte bei jeder Nachricht. Ich stöhnte, und Miki raschelte mit dem Papier.

Nach 45 Minuten hatte Ayano Tsukimi keine Lust mehr. Sie gab schon viele Interviews über ihre Puppen, aber keiner stellte je so viele Fragen wie dieser Deutsche jetzt. Ich stellte noch ein paar, aber nach weiteren 45 Minuten war dann auch Schluss. Ich hatte nicht, was ich wollte, und dachte eh nicht mehr, dass ich es bekommen kann.

“Wo schläfst du heute?” fragte sie mich. Keine Ahnung. Ich hatte drauf spekuliert, dass ich bei ihr übernachten konnte. Doch obwohl sie mich inzwischen dann doch recht sympathisch gefunden hatte, war das nicht drin. Ist in Japan eh nicht üblich.
Sie empfahl mir ein Minshuku, ein simples Gasthaus, 15 Minuten mit dem Auto entfernt. Yuki gleich nervös “Ruf da sofort an! Vielleicht haben die keine Zimmer mehr!”. Japaner habens gerne sicher. Tatsächlich gab es an dem Abend neben mir nur noch zwei weitere Gäste. Die restlichen 20 Zimmer waren frei.

Es war bereits stockfinster und unser Auto quälte sich langsam die Kurven entlang. In den Scheinwerfern tauchten manchmal die Puppen auf und oft stoppten wir kurz erschrocken, in der Erwartung es sei ein Mensch.

Die Nacht im Sturm

Das Minshuku wusste Bescheid und nach einer kurzen Erklärung seitens Yuki ließ man mich auch rein. Noch schnell die Verabschiedung und das Auto fuhr wieder Richtung Ehime. Ich war jetzt alleine.
Der Manager, die Köchin und ein Angestellter Ende 20 begrüßten mich. Ich stellte fest, dass ich meinen Ausweis in Hiroshima vergessen hatte. Zähneknirschend meinte man, das sei kein Problem, ich solle nur meine Adresse aufschreiben. Die wusste ich aber auch nicht aus dem Kopf, schließlich wohnte ich erst seit vier Wochen dort. Die Angestellten wechselten besorgte Blicke.

Ich schrieb einfach “Hiroshima City University” rein und meinem Namen dazu. “Ach und eins noch…” sagte ich und zückte meine Kreditkarte. “Akzeptiert ihr das? Ich hab nämlich kein Geld dabei.” Die Antwort auf die Frage wusste ich schon. Nein, sie akzeptierten das nicht.
Da war also nun ein Ausländer im Gasthaus, ohne Auto, ohne Ausweis und ohne Geld. Ob ich noch was essen möchte, fragte man mich trotzdem.

In der Nacht zog ein Sturm übers Tal, er hatte sich schon am Tag angedeutet. Im Fernsehen sah ich noch einen überraschend lustigen japanischen Film über einen Geist, der als Zeuge in einem Mordprozess aussagt. Der Wind pfeift durch das Holz des Hauses und drückte auf das Dach über mir. Es quietschte, haulte, knackte und wackelte alles. Ich schlief ein.
In der Nacht träumte ich auch von einem Geist, der irgendwas von mir wollte, aber ich bekämpfte ihn am Ende.

Drehtag

Am nächsten Morgen ging ich runter in den Essensraum. Die Drei der letzten Nacht schienen bereits auf mich zu warten. “Du musst heute abreisen” sagte man mir.

Etwas irritiert setzte ich mich an den Tisch, wo bereits roher Fisch und gekochter Reis warteten. Der Älteste ergänzte: “Es kommt ein Sturm, wir machen heute dicht. Es haben Leute abgesagt und du bist unser einziger Gast. Es lohnt sich nicht. Bitte verlasse uns heute.” Ich nahm einen Schluck grünen Tee und fragte mich, ob es nicht vielleicht doch etwas damit zu tun hat, dass ich ohne Geld und Ausweis hier gestrandet war.

Zum Dorf der Puppen fuhr kein Bus. Mein Plan war, dass ich entweder trampe oder laufe (ca. eine Stunde). Denn ich musste unbedingt bleiben und die Geschichte machen. Nach etwas hin und her haben wir dann entschieden, dass der jüngste Angestellte mich 30 Minuten zum nächsten Post-Amt fährt, wo ich (hoffentlich) Geld abheben könnte. Der junge Mann war sichtlich nervös und rauchte zwei Zigaretten, bevor ich im Auto war. Sonderlich gesprächig war er auch nicht.

Am Geldautomaten angekommen hoffte ich nur, dass das Geld aus Deutschland irgendwie seinen Weg auf meine Karte gefunden hat, damit ich hier im einsamen Iya-Tal doch noch irgendwie weg komme. Ich war ohne Geld und Auto hier so ziemlich gestrandet. Aber das gehört zum Abenteuer auch dazu, mir machte das nichts.
Der Angestellte drehte Kreise um sein Auto und wartete, bis ich vom Automaten zurückkehrte. Mit 50.000 Yen in der Hand winkte ich ihm zu. Auf einmal wurde er viel freundlicher.

Ich bezahlte die Rechnung und er wollte mich zum Dorf der Puppen fahren. Auf dem Weg machte ich aus dem Fenster viele Fotos. Irgendwann bot er mir auch einfach an zu halten, sodass ich aussteigen konnte.

Nun erzählte er auch von der Puppenfrau. Einerseits war er froh, dass es sie gibt. Die Puppen locken Touristen an und sorgen für Umsatz. Andererseits hat er, wie so viele andere im Tal, auch immer noch Angst vor ihnen. “Besonders nachts, wenn man mit dem Auto unterwegs ist.” Trotzdem scheute er sich, sich eindeutig oder negativ über sie zu äußern.

Er setzte mich vor ihrem Haus ab und fuhr nach einem kurzen Abschied davon.
Die Puppenfrau hatte schon wieder Besuch, eine Familie. Stolz stellte sie mich vor. “Das ist ein Journalist aus Deutschland, der macht einen Film über mich. Und er kann voll gut Japanisch.”

Bereits im Interview am Abend zuvor bot sie mir an, dass wir zur verlassenen Schule gehen. Die Besucher wollten gleich mitkommen. Ich schulterte schnell die Kamera und rannte hinterher. In der Schule blieb ich dann noch zwei Stunden alleine um alles zu fotografieren, bevor sie mit dem Schlüssel kam und mich abholte.

In der Schule war ich komplett alleine. Nun spürte ich auch, was der Angestellte meinte. Zweimal glaubte ich fest, dass mich einer beobachtet. Dabei war es nur eine Puppe. Es war beide Male die gleiche verdammte Puppe. Das Kind rechts auf der Treppe.

Die Blumen stellt sie jede Woche frisch in der Schule auf.

Als Gag wollte ich eigentlich in dem fertigen Film auch als Puppe auftauchen. Ich nahm also neben dem Lehrer Platz. Am Bart erkennt man es aber leider.

Ob ich schon etwas gegessen habe, fragte sie mich, als sie mich von der Schule abholte. Nein sagte ich, und sie ging wortlos. Zurück im Haus stellte sie mir Onigiri und Gemüse aus eigenem Anbau hin. Es waren die leckersten Süßkartoffeln die ich je hatte.
Ich erzählte ihr von meinem Alptraum mit dem Geist und sie lachte nur herzlich.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits 4-5 Stunden das gesamte Dorf und fast jede Puppe abfotografiert. Zwischendurch kamen immer wieder Touristen oder andere Besucher. Viele waren über mich, den jungen Ausländer, genauso verwundert, wie über die Puppen.
Als es dunkel wurde, fragte sie mich “Hast du nicht langsam mal genug Bilder?”

Sie genießt wirklich die Aufmerksamkeit, welche sie durch die Puppen oder die Kamera erhält. Aber sie hat auch diese Einsamkeit und Isolation gewählt. Ständige Besucher, die wieder gehen, das ist in Ordnung. Aber jemand der bleibt… das machte sie nervös.
Wir verstanden uns jedoch prächtig. Es kam später noch eine alte Nachbarin vorbei und zusammen schauten sie Eiskunstlaufen im Fernsehen. Als ich die Puppenfrau fragte, warum ihr das gefällt, sagte sie: “Die sind so jung und sehen alle so gut aus. Wie du!” und die beiden Damen feixten wie Schulmädchen.

Ihre Freundin konnte ich übrigens nur schwer verstehen. Sie sprach ein komisches Berg-Japanisch, die Puppenfrau musste manchmal übersetzen. Sie gab sich dabei viel Mühe und sprach immer langsam und deutliches Hochjapanisch mit mir.


Die Töpferwaren bot sie auch zum Verkauf an

Gegen Abend fragte sie wieder wo ich heute schlafe. Trotz all der Zuneigung war ihr Haus dann doch ausgeschlossen. Und das Minshuku von letzter Nacht ja auch. Ihr fiel noch ein teures Hotel ein, 20 Minuten mit dem Auto. Die Nacht kostet aber 11.700 Yen. Happig, sagte ich. “Aber es gib wohl keine andere Möglichkeit….” sagte ich und schaute sie dabei konzentriert an. Sie buchte mir ein Zimmer und fuhr mich auch zum Hotel. Am nächsten Morgen wollte sie mich dort auch abholen und zum Bahnhof bringen.

Zurück aus dem Tal

Das Zimmer war riesig. Für 11.700 Yen bekam man wirklich viel geboten. Das Abendessen dauerte eine Stunde, in der ein Kellner mir ständig neues Essen brachte. Alles lokal, alles köstlich. Aber es wollte einfach nicht aufhören. Die heiße Quelle vom Hotel hatte ich anschließend komplett für mich alleine, da die Gäste noch am Trinken waren.

Ich fragte beim Einchecken nach dem Passwort fürs WLAN. Die Antwort: “Passwort? Wir haben hier kein Passwort. Wir sind soweit draußen, es gibt hier weit und breit keinen, der uns das Internet klauen kann.” So definiert sich wohl Isolation im 21. Jahrhundert.

Das teure Hotel tat zwar mir und meinem Geldbeutel sehr weh, aber dann dachte ich mir auch: was solls. Bezahlt ist es eh, warum nicht genießen.

Meine Kamera bekam ein eigenes Bett, das hatte sie sich verdient.

Am nächsten Morgen sah ich dann, warum die Puppenfrau das Hotel kannte.

Im Auto erzählte sie mir auch etwas dazu, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich glaube einer der Puppen war/ist der Besitzer vom Hotel.

Sie begrüßte mich nach dem ebenfalls unendlichen Frühstück mit “Na, gab kein Brot, was?” und lachte. Ich hatte nämlich am Tag zuvor das Frühstück im Minshuku kaum runterbekommen. Kalter Reis und toter Fisch am Morgen ist nicht so meins. Am Abend kein Problem, aber morgens hab ich dann doch lieber irgendwas aus Teig.

Zusammen mit ihrer Nachbarin fuhren wir zum Bahnhof. Wir hielten mal an, weil sie mir eine große Brücke zeigen wollte, auf der wir dann zusammen im Wind schaukelten. Nach einer Stunde zeigte sie mir die erste Ampel seit Nagoro. Nach anderthalb Stunden waren wir am Bahnhof. Sie sagte “Sayonara”, ich sagte “Bis dann” und sie fuhr davon.

Der Zug kommt einmal in der Stunde, es blieb also noch Zeit mal kurz aufs Klo zu gehen. Das WC befand sich außerhalb vom Bahnhof, ich musste einmal ums Gebäude. Und dort sollte ich dann die letzte von Ayanos Puppen sehen. Anderthalb Stunden von ihrem Haus entfernt, am Eingang vom Tal.

Ich nahm den Zug nach Tokushima, und von dort den Bus nach Hiroshima. Rückblickend war das etwas umständlich, ich hätte direkt den Zug nach Hiroshima nehmen können. Auch wenn es zeitlich ungefähr auf das gleiche hinaus gelaufen wäre.

Am Sonntag Abend war ich dann wieder in dem Zimmer vom Studentenwohnheim. Eine lange Fahrt und gerade mal anderthalb Tage Fotografieren und Drehen hatte ich für die Geschichte. Ich war tatsächlich etwas enttäuscht, aber die Puppen sollten mich noch eine lange Zeit begleiten.

Demnächst geht es dann weiter mit Einträgen zum Schnitt und zum nachhaltigen Erfolg des Films.

Im Tal der Puppen

https://vimeo.com/87686716

Ayano Tsukimi (64) lebt in Nagoro, einem Dorf im östlichen Iya-Tal. Nur noch wenige Menschen leben hier. Für die Bewohner, die sterben oder wegziehen, fertigt Ayano Tsukimi lebensgrosse Puppen an und stellt sie an den Orten auf, die für diese Menschen wichtig waren. Ihre Puppen findet man verteilt im ganzen Tal.

Sie ist verheiratet, ihr Mann und ihre Tochter leben aber getrennt von ihr in Osaka. Mit ihrem 83 jährigen Vater lebt sie alleine im Haus ihrer Familie.

Mehr: Asienspiegel – Im Tal der Puppen

Der Letzte druckt das Licht aus

In Leipzig steht die letzte Lichtdruckerei Europas. Nur noch fünf Menschen können die schweren, hundert Jahre alten Maschinen bedienen. Ein Handwerk stirbt aus.

Udo Scholtz beugt sich über die Maschine. Mit dem Ergebnis des Drucks ist der 65 jährige Werkstattleiter noch nicht zufrieden. Es ist zu hell. Er greift nach dem Farbtopf und trägt eine neue Schicht auf. Seit 47 Jahren steht er nun schon fast jeden Tag an der Maschine und trägt Farbe auf. Er weiß, jeder Druck könnte der letzte hier sein.

Im Druckkunstmuseum in Leipzig, in der zweiten Etage, stehen die letzten drei Maschinen, die noch im Betrieb sind. Mehr als hundert Jahre sind die Drucker schon alt. Bald könnten sie zu den schweigenden Buchdruck-Apparaten und Litographen aus der Renaissance-Zeit ins Erdgeschoss gestellt werden. Als Relikte einer anderer Zeit mit anderen Anforderungen.
Noch ist es jedoch nicht soweit. Die Werkstatt ist erfüllt vom strengen Geruch von Schmieröl und Ammoniak. Die schweren Zahnräder aus Stahl drehen sich weiter. Das Geräusch von Metall auf Metall ist der Klang von Widerstand, der nicht enden will. Der Lichtdruck lebt.

Nahezu alle Zeitungen und Bücher werden heutzutage im Offset-Verfahren hergestellt. Lichtdruck war sein Vorgänger und weit verbreitet. Wenn man Udo Scholtz fragt, wie seine alten Maschinen funktionieren, erzählt er gerne. Er legt den Farbspachtel beiseite und setzt sich neben den stählernen Apparat, der halb so breit ist, wie die ganze Werkstatt. Er hat die Geschichte schon oft erzählt. Seit 1868 gibt es die Technik, bei der direkt von einer Glasplatte gedruckt wird. Das Verfahren ähnelt der Fotografie: Das Original eines Bildes oder einer Handschrift wird unter eine lichtempfindliche Gelatine-Schicht auf einer Glasplatte gelegt. Diese bildet nun ein Quellrelief aus. Dichte Stellen im Bild bewirken ein tiefes Relief. Darin sammelt sich die Farbe, die so auf das Papier übertragen wird. Die Qualität ist bis heute unerreicht. Selbst die modernsten digitalen Drucker haben nicht die Auflösung, die ein Lichtdruck bietet. Die Kopie entspricht 1:1 der Vorlage. Teilweise sind die Drucke so gut, dass einige Betrüger schon versuchten die maschinelle Kopie als Original zu verkaufen. Scholtz lacht darüber stolz.

Doch die Technik hat einen Nachteil: Sie taugt nicht für die moderne Massenproduktion, die mehrere 10.000 Kopien von einem Original verlangt. Denn von einer Glasplatte können maximal tausend Drucke am Tag produziert werden, realistisch sind aber nur wenige hundert. Alles andere geht auf Kosten des Materials. Heute soll immer schneller, immer mehr und immer billiger produziert werden. Trotz seiner Qualität, ist für den Lichtdruck da kein Platz mehr.


Vor hundert Jahren produzierten noch über 200 Lichtdruckereien in Deutschland. Heute ist es nur noch eine.

Die Werkstatt in Leipzig stand zu DDR-Zeiten immer im Schatten der großen Druckerei in Dresden. Beide wurden von der Partei kontrolliert. Achim Müller, der 1956 seine Ausbildung zum Lichtdrucker begann, war damals mit dabei. „Für den Erhalt der Diktatur war die Kontrolle der Medien und medienerzeugenden Betriebe notwendig“ sagt er. Druckereien, auch kleine wie in Leipzig, gehörten dazu. So wurde der Lichtdruck zum Parteibetrieb, doch Dresden blieb stets die größere Einrichtung. Sobald Geld verfügbar war für Modernisierungen, wurde es zunächst in die Dresdner Druckerei investiert. Leipzig blieb klein und die Maschinen alt. Rückblickend war das Glück. Denn beim Umrüsten in Dresden wurden die alten Lichtdruck-Maschinen gegen neue Offsetdrucker getauscht. Die waren schneller, lieferten aber schlechtere Qualität. Museen und Galerien vertrauten weiterhin Leipzig. Selbst Staatsoberhaupt Honecker schätzte die Eigenschaften der Abzüge, die wie echt wirkten. Bei Staatsbesuchen verschenkte er oft Lichtdrucke. „Früher galt: Der Lichtdruck an der Wand, das Original im Tresor“ erinnert sich Müller, ein Lichtdrucker im Ruhestand. Er ist jetzt 72 Jahre alt und seit 13 Jahren offiziell nicht mehr Teil der Werkstatt. Er hat sein Leben lang Goethe faksimiliert. Nach der Wende fand er Drucke in Museen im Westen, die durch seine Hand gingen. Nur wenige können den Unterschied zum Original feststellen.

Nach dem Fall der Mauer zerrten die Kräfte des freien Marktes an der kleinen Werkstatt in Leipzig. Das Lichtdruck-Sterben, welches weltweit in den 60er Jahren einsetzte, erreichte auch den Osten. Die Technologie war zu teuer, zu langsam um bestehen zu können, hieß es. Achim Müller machte das nicht lange mit. Im Jahr 1999 wurde ihm angeboten, in den Offsetdruck oder in den Ruhestand zu wechseln. Er wählte die Rente, kommt aber nach wie vor alle paar Wochen in die Werkstatt um mit anzupacken, nach den Maschinen zu sehen oder mit den Mitarbeitern über alte Zeiten zu plaudern.

Die vierköpfige Belegschaft ist sich, was ihren Beruf angeht, einig: Lichtdrucker ist nicht nur ein Job, Lichtdrucker sei man aus Leidenschaft. Das familiäre Umfeld in der Werkstatt entstand vor allem durch die Krisen, durch die sie in der Druckerei gemeinsam gehen mussten.

Als etablierte Lichtdruckereien in Paris, Wien oder Großbritannien geschlossen wurden, reisten die Leipziger um die Welt, um Kontakte zu den noch verbliebenen Werkstätten aufzubauen. Oft sorgten wirtschaftliche Fehlentscheidungen für das Ende der Druckereien. Sie versuchten zu viel in zu kurzer Zeit zu drucken, um konkurrieren zu können. Die hektische Belastung zerstörte die alten Maschinen, die den Arbeitsrhythmus des vorigen Jahrhunderts gewöhnt waren.
Solche Entwicklungen wurden von Leipzig aus skeptisch verfolgt. Im Falle einer Schließung übernahm die ostdeutsche Werkstatt oft die Farbbestände der geschlossenen Betriebe. Mit jedem preiswerten Farbtopf konnte es in Leipzig noch ein paar Druckgänge weitergehen.

Nach dem gescheiterten Versuch als privates Unternehmen zu existieren und konkurrenzfähig zu sein, ist der Lichtdruck in Leipzig heute ein eingetragener Verein. Die Mitarbeiter, die seit mehreren Jahrzehnten die einzigen waren, die an diesen Maschinen ausgebildet wurden, sind heute offiziell nur ABM-Kräfte. Die letzten Vertreter eines Handwerks überleben mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Der Lichtdruck stirbt mit denen, die ihn noch beherrschen.

Lange waren es nur noch drei Werkstätten auf der Welt. Doch seit im letzten Jahr die Gebrüder Alinari in Florenz geschlossen haben, ist der Lichtdruck in Leipzig die letzte Einrichtung in Europa. Außerhalb arbeitet nur noch in Kyoto eine Werkstatt, die direkt für den japanischen Kaiser produziert. Auch die Farben in Leipzig kommen aus Japan. Dort sind sie die einzigen weltweit, die sie noch herstellen. Nur starke Maschinen können die Druckfarben verarbeiten, welche als die kräftigsten überhaupt gelten. Das macht sie auch besonders langlebig. Zum Beweis kratzt Udo Scholtz die Kruste von einem 40 Jahre alten blauen Farbtopf ab und verreibt die Paste auf den Druckrollen. Das Wissen um die Produktion ist so gut wie verloren, und ohne Farbe gibt es keinen Druck.
Achim Müller blickt skeptisch in die Zukunft: „Den Lichtdruck wird es in 50 Jahren nicht mehr geben – außer im Museum“

Udo Scholtz bleibt hingegen pragmatisch. Als Werkstattleiter denkt er lieber an den nächsten Druck, als an die nächsten 50 Jahre. Zwei Maschinen waren heute im Betrieb. Die eine faksimilierte über 200 Jahre alte Briefe von Schiller an Goethe für das Museum in Weimar. Die andere druckte Werke für eine Künstlerin, welche die große Maschine als neues Medium ausprobierte. Beide Geräte müssen nun ruhen. Scholtz wischt noch die Farbe von den Rollen. Ende Juli wird er in Rente gehen. Seine Hoffnung ist dann die 27 jährige Janine Kittler, die vor fünf Jahren die Ausbildung zur Lichtdruckerin begann. Alle hatten ihr von diesem perspektivlosen Beruf abgeraten. Doch für Janine ist Lichtdruck Herzsache.
So auch für Herrn Scholtz. Auch im Ruhestand wird er noch drucken.

Solange es geht.

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Anmerkung: Die Geschichte entstand Anfang des zweiten Semesters, also vor über einem Jahr. Es war die letzte Geschichte mit meiner alten Kamera. Für einen Reportage-Wettbewerb habe ich zusätzlich diesen ergänzenden Text gemacht. Der wurde dann zwar nicht akzeptiert, aber die Multimedia-Produktion bekam eine lobende Erwähnung. Ich würde es heute nicht mehr so schreiben oder fotografieren. Trotzdem ist es eine nette kleine Geschichte und es wäre schade, sie nicht zu zeigen, da sie bisher nie veröffentlicht wurde.