Der Letzte druckt das Licht aus

In Leipzig steht die letzte Lichtdruckerei Europas. Nur noch fünf Menschen können die schweren, hundert Jahre alten Maschinen bedienen. Ein Handwerk stirbt aus.

Udo Scholtz beugt sich über die Maschine. Mit dem Ergebnis des Drucks ist der 65 jährige Werkstattleiter noch nicht zufrieden. Es ist zu hell. Er greift nach dem Farbtopf und trägt eine neue Schicht auf. Seit 47 Jahren steht er nun schon fast jeden Tag an der Maschine und trägt Farbe auf. Er weiß, jeder Druck könnte der letzte hier sein.

Im Druckkunstmuseum in Leipzig, in der zweiten Etage, stehen die letzten drei Maschinen, die noch im Betrieb sind. Mehr als hundert Jahre sind die Drucker schon alt. Bald könnten sie zu den schweigenden Buchdruck-Apparaten und Litographen aus der Renaissance-Zeit ins Erdgeschoss gestellt werden. Als Relikte einer anderer Zeit mit anderen Anforderungen.
Noch ist es jedoch nicht soweit. Die Werkstatt ist erfüllt vom strengen Geruch von Schmieröl und Ammoniak. Die schweren Zahnräder aus Stahl drehen sich weiter. Das Geräusch von Metall auf Metall ist der Klang von Widerstand, der nicht enden will. Der Lichtdruck lebt.

Nahezu alle Zeitungen und Bücher werden heutzutage im Offset-Verfahren hergestellt. Lichtdruck war sein Vorgänger und weit verbreitet. Wenn man Udo Scholtz fragt, wie seine alten Maschinen funktionieren, erzählt er gerne. Er legt den Farbspachtel beiseite und setzt sich neben den stählernen Apparat, der halb so breit ist, wie die ganze Werkstatt. Er hat die Geschichte schon oft erzählt. Seit 1868 gibt es die Technik, bei der direkt von einer Glasplatte gedruckt wird. Das Verfahren ähnelt der Fotografie: Das Original eines Bildes oder einer Handschrift wird unter eine lichtempfindliche Gelatine-Schicht auf einer Glasplatte gelegt. Diese bildet nun ein Quellrelief aus. Dichte Stellen im Bild bewirken ein tiefes Relief. Darin sammelt sich die Farbe, die so auf das Papier übertragen wird. Die Qualität ist bis heute unerreicht. Selbst die modernsten digitalen Drucker haben nicht die Auflösung, die ein Lichtdruck bietet. Die Kopie entspricht 1:1 der Vorlage. Teilweise sind die Drucke so gut, dass einige Betrüger schon versuchten die maschinelle Kopie als Original zu verkaufen. Scholtz lacht darüber stolz.

Doch die Technik hat einen Nachteil: Sie taugt nicht für die moderne Massenproduktion, die mehrere 10.000 Kopien von einem Original verlangt. Denn von einer Glasplatte können maximal tausend Drucke am Tag produziert werden, realistisch sind aber nur wenige hundert. Alles andere geht auf Kosten des Materials. Heute soll immer schneller, immer mehr und immer billiger produziert werden. Trotz seiner Qualität, ist für den Lichtdruck da kein Platz mehr.


Vor hundert Jahren produzierten noch über 200 Lichtdruckereien in Deutschland. Heute ist es nur noch eine.

Die Werkstatt in Leipzig stand zu DDR-Zeiten immer im Schatten der großen Druckerei in Dresden. Beide wurden von der Partei kontrolliert. Achim Müller, der 1956 seine Ausbildung zum Lichtdrucker begann, war damals mit dabei. „Für den Erhalt der Diktatur war die Kontrolle der Medien und medienerzeugenden Betriebe notwendig“ sagt er. Druckereien, auch kleine wie in Leipzig, gehörten dazu. So wurde der Lichtdruck zum Parteibetrieb, doch Dresden blieb stets die größere Einrichtung. Sobald Geld verfügbar war für Modernisierungen, wurde es zunächst in die Dresdner Druckerei investiert. Leipzig blieb klein und die Maschinen alt. Rückblickend war das Glück. Denn beim Umrüsten in Dresden wurden die alten Lichtdruck-Maschinen gegen neue Offsetdrucker getauscht. Die waren schneller, lieferten aber schlechtere Qualität. Museen und Galerien vertrauten weiterhin Leipzig. Selbst Staatsoberhaupt Honecker schätzte die Eigenschaften der Abzüge, die wie echt wirkten. Bei Staatsbesuchen verschenkte er oft Lichtdrucke. „Früher galt: Der Lichtdruck an der Wand, das Original im Tresor“ erinnert sich Müller, ein Lichtdrucker im Ruhestand. Er ist jetzt 72 Jahre alt und seit 13 Jahren offiziell nicht mehr Teil der Werkstatt. Er hat sein Leben lang Goethe faksimiliert. Nach der Wende fand er Drucke in Museen im Westen, die durch seine Hand gingen. Nur wenige können den Unterschied zum Original feststellen.

Nach dem Fall der Mauer zerrten die Kräfte des freien Marktes an der kleinen Werkstatt in Leipzig. Das Lichtdruck-Sterben, welches weltweit in den 60er Jahren einsetzte, erreichte auch den Osten. Die Technologie war zu teuer, zu langsam um bestehen zu können, hieß es. Achim Müller machte das nicht lange mit. Im Jahr 1999 wurde ihm angeboten, in den Offsetdruck oder in den Ruhestand zu wechseln. Er wählte die Rente, kommt aber nach wie vor alle paar Wochen in die Werkstatt um mit anzupacken, nach den Maschinen zu sehen oder mit den Mitarbeitern über alte Zeiten zu plaudern.

Die vierköpfige Belegschaft ist sich, was ihren Beruf angeht, einig: Lichtdrucker ist nicht nur ein Job, Lichtdrucker sei man aus Leidenschaft. Das familiäre Umfeld in der Werkstatt entstand vor allem durch die Krisen, durch die sie in der Druckerei gemeinsam gehen mussten.

Als etablierte Lichtdruckereien in Paris, Wien oder Großbritannien geschlossen wurden, reisten die Leipziger um die Welt, um Kontakte zu den noch verbliebenen Werkstätten aufzubauen. Oft sorgten wirtschaftliche Fehlentscheidungen für das Ende der Druckereien. Sie versuchten zu viel in zu kurzer Zeit zu drucken, um konkurrieren zu können. Die hektische Belastung zerstörte die alten Maschinen, die den Arbeitsrhythmus des vorigen Jahrhunderts gewöhnt waren.
Solche Entwicklungen wurden von Leipzig aus skeptisch verfolgt. Im Falle einer Schließung übernahm die ostdeutsche Werkstatt oft die Farbbestände der geschlossenen Betriebe. Mit jedem preiswerten Farbtopf konnte es in Leipzig noch ein paar Druckgänge weitergehen.

Nach dem gescheiterten Versuch als privates Unternehmen zu existieren und konkurrenzfähig zu sein, ist der Lichtdruck in Leipzig heute ein eingetragener Verein. Die Mitarbeiter, die seit mehreren Jahrzehnten die einzigen waren, die an diesen Maschinen ausgebildet wurden, sind heute offiziell nur ABM-Kräfte. Die letzten Vertreter eines Handwerks überleben mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Der Lichtdruck stirbt mit denen, die ihn noch beherrschen.

Lange waren es nur noch drei Werkstätten auf der Welt. Doch seit im letzten Jahr die Gebrüder Alinari in Florenz geschlossen haben, ist der Lichtdruck in Leipzig die letzte Einrichtung in Europa. Außerhalb arbeitet nur noch in Kyoto eine Werkstatt, die direkt für den japanischen Kaiser produziert. Auch die Farben in Leipzig kommen aus Japan. Dort sind sie die einzigen weltweit, die sie noch herstellen. Nur starke Maschinen können die Druckfarben verarbeiten, welche als die kräftigsten überhaupt gelten. Das macht sie auch besonders langlebig. Zum Beweis kratzt Udo Scholtz die Kruste von einem 40 Jahre alten blauen Farbtopf ab und verreibt die Paste auf den Druckrollen. Das Wissen um die Produktion ist so gut wie verloren, und ohne Farbe gibt es keinen Druck.
Achim Müller blickt skeptisch in die Zukunft: „Den Lichtdruck wird es in 50 Jahren nicht mehr geben – außer im Museum“

Udo Scholtz bleibt hingegen pragmatisch. Als Werkstattleiter denkt er lieber an den nächsten Druck, als an die nächsten 50 Jahre. Zwei Maschinen waren heute im Betrieb. Die eine faksimilierte über 200 Jahre alte Briefe von Schiller an Goethe für das Museum in Weimar. Die andere druckte Werke für eine Künstlerin, welche die große Maschine als neues Medium ausprobierte. Beide Geräte müssen nun ruhen. Scholtz wischt noch die Farbe von den Rollen. Ende Juli wird er in Rente gehen. Seine Hoffnung ist dann die 27 jährige Janine Kittler, die vor fünf Jahren die Ausbildung zur Lichtdruckerin begann. Alle hatten ihr von diesem perspektivlosen Beruf abgeraten. Doch für Janine ist Lichtdruck Herzsache.
So auch für Herrn Scholtz. Auch im Ruhestand wird er noch drucken.

Solange es geht.

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Anmerkung: Die Geschichte entstand Anfang des zweiten Semesters, also vor über einem Jahr. Es war die letzte Geschichte mit meiner alten Kamera. Für einen Reportage-Wettbewerb habe ich zusätzlich diesen ergänzenden Text gemacht. Der wurde dann zwar nicht akzeptiert, aber die Multimedia-Produktion bekam eine lobende Erwähnung. Ich würde es heute nicht mehr so schreiben oder fotografieren. Trotzdem ist es eine nette kleine Geschichte und es wäre schade, sie nicht zu zeigen, da sie bisher nie veröffentlicht wurde.